„In Leipzig gäbe es dafür keine einzige Mark“

■ Bausenator Nagel beim Ortstermin im Lichtenberger Untersuchungsgebiet Victoriastadt

„Aufgepaßt, Herr Nagel, wir haben da grade einen Blindgänger ausgebuddelt“, rief scherzend der Baggerführer in Richtung des prominenten Besuchers. Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) nahm's gelassen, und Erich Jesse, sein persönlicher Referent, fragte die taz, ob man wisse, daß es in der Bauverwaltung auch eine Abteilung Sprengstoffbergung gebe. Als Ex- Senator Wittwer die habe auflösen wollen, sei er beinahe darüber gestolpert, weil tags darauf unter einem Buckower Wohnhaus eine Fliegerbombe explodiert sei.

Heiterkeit und Bullenhitze zur Nagelprobe am Donnerstag nachmittag. Parallel zu einer Ausstellung über das Untersuchungsgebiet Kaskelstraße in Lichtenberg kamen Nagel samt Referent und dem Leiter des Referats Stadterneuerung, Geffers, zum Ortstermin. Das Gebiet um die Kaskel-, Pfarr- und Türschmidtstraße ist eines von 29 Ostberliner Untersuchungsgebieten, die darauf warten, förmlich als Sanierungsgebiet festgelegt zu werden. Das Besondere des Gebietes ist seine Insellage, schließlich wird der Kiez im Norden von der „Lichtenberger Kurve“ und im Süden vom Bahndamm des S-Bahnhofs Ostkreuz eiförmig von Eisenbahnschienen umschlossen. Die Victoriastadt auf dem ehemaligen Gut Boxhagen (benannt nach der englischen Königin Victoria) wurde in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus dem Boden gestampft, noch bevor im übrigen Berlin mit der Mietskasernenbebauung begonnen wurde. Entsprechend kleinstädtisch wirken heute noch die dreigeschossigen Straßenzüge, die, insbesondere in der südlichen Pfarrstraße, bereits zu DDR-Zeiten rekonstruiert wurden.

Mit einem Anteil von 74 Prozent der Wohnungen mit Bad oder Dusche ist die Victoriastadt, in der nach 1905 lediglich eine Kaufhalle neu gebaut wurde, vergleichsweise gut ausgestattet. Neben der Grundinstandsetzung der Wohnung soll demnach vor allem in die Infrastruktur des Gebietes und den Wohnungsneubau durch Lückenschließung investiert werden. So jedenfalls das Anliegen des Bezirks. Ob die Victoriastadt tatsächlich zum Sanierungsgebiet wird, steht freilich in den Sternen. Zwar hat die Bauverwaltung gestern die Festlegung von fünf Sanierungsgebieten im Prenzlauer Berg, Mitte und Köpenick unterzeichnet, doch die Verhandlungen mit dem Finanzsenator stehen noch aus. „Alle 29 Untersuchungsgebiete werden wohl nicht festgelegt werden“, sagte Erneuerungsreferent Geffers, und die dann auch kleiner als geplant. „Wir können nicht nach Belieben Geld drucken“, umschrieb auch Nagels Referent Jesse die Berliner Finanzlage. „In Leipzig würde in ein solches Gebiet keine einzige Mark gesteckt werden.“ Jesse warnte demnach auch vor allzu hohen Erwartungen an eine öffentliche Sanierung. „Ein Großteil der Konflikte muß individuell ausgestanden werden“, sagte er.

Kleinteilig und knapp wie die künftige Stadterneuerung war denn auch der Sanierungsspaziergang. Mißtöne gab es ebensowenig wie eine Betroffenenvertretung der Anwohner, und selbst die Selbsthelfer in der Pfarrstraße 107 verhielten sich dem Senator gegenüber artig und dankbar. Auch die Aufregung der Zivilbeamten war unnötig. Von den Noch-Besetzern der Pfarrstraße ließ sich keiner blicken, und die rechten Jugendlichen, die unter Betreuung des Sozialdiakons Michael Heinisch in der Pfarrstraße 111 Wohnungen für jugendliche Trebegänger bauen, wirken in der weißen Malermontur, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Einzig ein leerstehendes Haus in der Spittastraße erregte ein wenig die Gemüter. Nach der Aufhebung der Zwangsverwaltung, so eine Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft für Sozialplanung und Mieterberatung (ASM), zeigte sich der Alteigentümer desinteressiert, und die Wohnungsbaugesellschaft könne im Rahmen der Notverwaltung nur verkehrssichernde Maßnahmen durchführen. Und schräg gegenüber echauffierte sich Senator Nagel über den Einbau von Plastikfenstern. „Wird das öffentlich gefödert?“, fragte er irritiert. „Privatmodernisierung“, so die Antwort. Sichtlich erleichtert ging der Senator weiter. „Bei einer öffentlichen Förderung wäre das nicht passiert.“ Uwe Rada