: Die Hauptstadt ist wie ein Grand ohne sieben
■ Wer derzeit bedauert, daß Berlin im Fußball nicht erstklassig ist, der verdrängt die vielen verpaßten Chancen der hiesigen Vereine: Keine andere Stadt hatte soviel Bundesligisten
In Berlin grassiert das Fußballfieber. 200.000 Karten hätten verkauft werden können für das DFB- Pokalfinale zwischen den Amateuren von Hertha BSC und Bayer Leverkusen. Dem Spiegel war der Siegeszug der „Berliner Jungs“ sogar eine ausführliche Geschichte wert. Tenor der Kommentare: Berlin, der blinde Fleck auf Deutschlands Fußball-Landkarte, ist wieder wer! Den Hertha-Bubis sei Dank! Trotz der verständlichen Freude über die weiß-blauen Youngster – Berlin hat seine besten Chancen auf eine Teilnahme im Konzert der Großen schon frühzeitig vergeigt. Keine andere Stadt beherbergte nämlich in der jüngeren Fußball-Geschichte Deutschlands so viele Erstliga- Vereine wie Spreeathen.
1963, in der Geburtsstunde der Fußball-Bundesliga, war Hertha BSC einer von 16 Startern in der neuen Eliteklasse. 1965, Hertha war gerade das erste Mal abgestiegen, nahm Tasmania 1900 diesen Platz ein. Mit kümmerlichen acht Pluspunkten und satten 108 Gegentoren quittierte „Tas“ das Abenteuer Bundesliga, mußte aufgrund gewagter Finanzmanöver Konkurs anmelden und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Amateurlager.
Um so fettere Schlagzeilen schrieb dagegen die zwischenzeitlich wieder zurückgekehrte Skandalnudel Hertha. Tief im Bundesliga-Bestechungssumpf verstrickt, flog Westberlins Flaggschiff prompt aus dem Oberhaus. – Kurze Zeit später, Ende der sechziger Jahre, erlebte die Stadt einen Fußballboom sondergleichen. Hertha war wieder da und kletterte fortan in der Bundesliga-Tabelle in luftige Regionen. Was allerdings im Westteil der Stadt kaum jemand zur Kenntnis nahm: Im Ostteil spielten sich die Berliner Clubs Vorwärts (Volksarmee), Dynamo (Staatssicherheit/Volkspolizei) sowie Union (als überwiegend ziviler Club) immer mehr in den Vordergrund der höchsten DDR-Klasse. So verfügte Gesamt- Berlin 1968/69 nominell über sage und schreibe vier Erstligisten: Hertha im Westen, Vorwärts, Dynamo und Union im Osten. Davon können München, Stuttgart und Bremen heute nur träumen.
Im sozialistischen Fußball Berlins durfte die DDR-Staatsführung es mangels Opposition sogar wagen, ein Spitzenteam zu demontieren. 1971 fiel der ASK Vorwärts einer politischen Machtintrige zum Opfer. Weil der mächtige Erich Mielke, der Herr der Dynamos, die Vormachtstellung der Armee- Mannschaft Vorwärts (fünfmal DDR-Meister zwischen 1958 und 1966) nicht länger dulden wollte, veranlaßte er, quasi über Nacht, die Versetzung des ASK Vorwärts zur Saison 1971/72 nach Frankfurt/ Oder! Der Weg für den BFC Dynamo aus Hohenschönhausen, den ungeliebten „Schieber-Meister“ von 1979 bis 1988, war frei. Da waren es nur noch drei...
1976/77 bekam die „alte Dame Hertha“ unverhofft noch ein kleines westliches Geschwisterchen. Tennis Borussia, der vornehme Club der Künstler, hatte zum zweitenmal den Aufstieg in die höchste bundesdeutsche Klasse geschafft und komplettierte den ortsansässigen Grand mit vier ungleichen Brüdern. Von nun an ging es jedoch beiderseits der Spree bergab.
Im Berliner Osten surrten die von Mielke mit allen (auch unerlaubten) Mitteln gepushten Dynamos von Titel zu Titel, während das „Schmuddelkind“ 1. FC Union aus Köpenick höchstens geduldet wurde. Die Sache war zum Gähnen langweilig. Im Westen Berlins hingegen betrat nach dem Abtauchen Herthas (1988 kam in der Amateuroberliga der absolute Tiefpunkt) sowie Tennis Borussias die Tempelhofer Blau-Weiß 90 auf den Plan. Im Sauseschritt mauserte sich der verschlafene Landesligist bis 1986 in einen strahlenden Bundesliga-Neuling, der im Olympiastadion auf Punktejagd ging. Leider verstanden die wechselnden Vorstände nichts vom Wirtschaften, woraufhin der Tradionsverein im 102. Jahr seines Bestehens (1992) das Zeitliche segnete. Tasmania läßt grüßen.
Von insgesamt sieben (!) Berliner Spitzenclubs ist heute keiner mehr erstklassig. Hertha spielt auch nächstes Jahr wieder in Meppen, der Hölle hinter dem Moor. Tennis Borussia und Union kämpfen derzeit verbissen um die Relegation zur Zweiten Bundesliga. Über den Gräbern von Tasmania 1900, Blau-Weiß 90 und Vorwärts Berlin ist längst Gras gewachsen. Auch den BFC Dynamo gibt es nicht mehr. Der DDR-Rekordmeister hat sich im Frühjahr 1990 in FC Berlin umbenannt.
Wer tritt in Zukunft das schwere Erbe der Amateure von Hertha BSC an, die in diesem Jahr eindrucksvoll gezeigt haben, das man sehr wohl noch oben mitmachen kann, obwohl man aus Berlin kommt? Die Hertha-Professionellen werden es wieder mit aller Macht versuchen, eine Etage höher zu rutschen. Bei Tennis Borussia ist seit dem Einstieg des Schlagerproduzenten Jack White (Tony Marshall, David Hasselhoff) Geld wie Heu vorhanden. Aber Erfolg läßt sich nicht so ohne weiteres kaufen. Glänzende Perspektiven räumen Kenner der Materie dem 1. FC Union ein. Ein Verein mit Tradition, unbelastet von dunklen Stasi-Schatten, der von einem stattlichen Pool mittelständischer Unternehmer gefördert wird.
Bliebe noch der FC Berlin, der Amateuroberligist. Am liebsten hätten wohl die Verbandsoberen nach der Vereinigung den Fußball- Dynamos den Garaus gemacht. Vergeblich. Nun sitzt die FC-Führung immer noch auf gefüllten Geldsäcken, die mit den Millionen-Transfers von Dynamo-Superstars wie Thom, Rohde, Reich oder Doll immer fetter wurden. Jürgen Schulz
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