: "Ich bin kein Ossi-Kampfkandidat"
■ Interview mit dem Bürgerrechtler, Naturwissenschaftler und Arzt Jens Reich zu seiner Bereitschaft, als Bundespräsident zu kandidieren /"Man kann nicht immer nur schimpfen, ohne sich einmischen zu wollen"
taz: Sind Sie erfreut über die Initiative, die Ihnen die Kanditatur zum Bundespräsidenten nahelegt?
Jens Reich:Da war ich angenehm überrascht. Es ist eben keine Ossi-Kampforganisation, sondern es sind sehr viele solide westdeutsche Staatsbürger dabei, und das kommt dem Aspekt entgegen, den ich am wichtigsten finde: integrierend und ausgleichend zwischen Ost und West zu wirken und den Schwierigkeiten mit der Vereinigung zu begegnen.
Sie sind 1990 aus der Politik ausgestiegen und wollen jetzt das höchste politische Amt bekleiden. Wie verhält sich das zueinander?
Ich habe umgedacht. Man kann nicht immer wieder darüber schimpfen, daß irgendetwas geschieht, ohne daß man gefragt wird – das geht nicht. Ich kann nicht mitschimpfen, wenn ich selber rausgegangen bin. Diese Rolle ist mir vor allem mit den Folgen der Wiedervereinigung, den zunehmenden Ausschreitungen gegen Ausländer, unbehaglich geworden.
Sie gelten als harscher Kritiker der Wiedervereinigung, wie sie vollzogen worden ist...
... harscher Kritiker nicht. Ich war dafür, daß die Vereinigung sofort vollzogen werden mußte. Die Einzelheiten hätten dann allerdings sehr viel offener bleiben müssen. Da sind Schnellschüsse geschehen, bei denen sofort zu sehen war, daß das so nicht funktionieren würde. Im Vergleich hierzu ist die Wiedervereinigung mit dem Saarland vor 30 Jahren, die natürlich lange nicht so kompliziert war, günstiger verlaufen. Dort hat es noch ein paar Jahre den Franc gegeben, um nur ein Beispiel zu nennen. Das heißt, die politisch Verantwortlichen haben damals sehr genau mit Sonderwirtschaftsgebiet und Übergangsregelungen erreicht, daß es nicht zum wirtschaftspolitischen und sozialen crash kommt. Das haben wir diesmal verpaßt.
Das heißt, Sie sehen Ihre kritische Haltung zur Wiedervereinigung nicht als Gefährdung der integrativen Rolle, wegen derer Sie jetzt als Bundespräsident ins Gespräch gebracht wurden?
So ist es, ich bin kein Ossi- Kampfkandidat.
Normalerweise kommen Bundespräsidenten aus der Mitte der Parteien. Mit Ihnen würde eine Person mitten aus der Gesellschaft Bundespräsident werden. Steht dahinter auch ein Konzept?
Ja, da ist das Bürgerbewegungs- und Einmischungskonzept. Demokratie ist ja keine Säule, die von selbst steht. Demokratie muß immer wieder neu hergestellt werden. Das gilt insbesondere für den Osten und für Berlin. Das kann nur funktionieren, wenn die Mitglieder der Demokratie, die Bürger und Bürgerinnen bereit sind, sich zu engagieren, sich für das Gemeinwesen mitverantwortlich zu fühlen und den Müll nicht einfach über den Zaun kippen, um zu sagen: das ist Honecker's – wie wir es solange gemacht haben.
Ihre Kandidatur also als Fortsetzung des Gedankens der Bürgerrechtsbewegung?
Ja.
Wie würden Sie sich als Bundespräsident zum Problem des Rechtsradikalismus verhalten?
Da ist nicht nur der Bundespräsident, die ganze Gesellschaft ist aufgerufen, ganz deutlich zu sagen und dazu zu stehen, daß das eine Bewegung ist, die wir nie wieder haben wollen.
Die Rechtsradikalen müssen Minderheiten bleiben, deren Parteien dürfen nicht gewählt werden. Aber der Bundespräsident kann nicht mit dem Rohrstock dastehen und die Parteien verbieten. So geht das nicht.
Letzten Endes funktioniert es eben nur über den Weg des Engagements für das Gemeinwesen, für das Grundgesetz, und für das gastfreundliche Zugehen auf die Minderheiten, auch jene, die nicht so gut deutsch sprechen.
Der Bundespräsident muß zeigen, daß er jemand ist, der auch Kinder hat, der mittleren Alters ist, der nachdenken kann, und der auch dagegen ist, der das nicht erträgt.
Also im starken Sinne eine Vorbildfunktion?
Ja.
Welches sind heutzutage weitere wichtige Aufgaben für einen Bundespräsidenten?
Es gibt die ganz langfristigen Aufgaben. Wir müssen unseren Kindern in vierzig, fünfzig Jahren dieses Land lebensfähig übergeben. Mit sauberer Luft, sauberem Wasser und so weiter. Wir müssen aufpassen, daß nicht die ganze Welt kaputt gemacht wird. Da muß eine – friedliche – Umwälzung der Technik und des Konsumverhaltens der Gesellschaft stattfinden. Wir schaffen das aber nur, wenn wir den inneren Bürgerkrieg, die Mauer in den Köpfen überwinden können. Das ist das Zentrale, dahingehend muß ein Bundespräsident wirken
Wir müssen als Bürger mit Solidarität und Opfergemeinschaft diese Spannungen überwinden, damit wir die anderen Themen nicht verpassen.
Würden Sie als Bundespräsident sich etwas mehr in die öffentlichen Diskussionen einmischen?
Ja, ich bin Naturwissenschaftler und Arzt, und da interessiert mich eine Menge. Ich würde auch weiterhin zu Tagungen fahren und mitdiskutieren. Das sind die Fragen der sozialen Verantwortung der Medizin, der sozialen Gestaltung des technologischen Umbauprozesses, der vor uns steht und der Modelle, wie die Welt stabil bleiben kann und nicht in einen Wirbel hineingerät.Ich würde mich allerdings nicht tagespolitisch einmischen und Zensuren nach rechts und links austeilen. Das darf der Bundespräsident nicht. Dies wäre auch genau die falsche Funktion, wenn er polarisierend wirken würde.
Wenn Steffen Heitmann (CDU, Justizminister von Sachsen), also auch jemand aus der Ex-DDR, als Bundespräsident kandidieren sollte, würden Sie Ihre Kandidatur dann noch aufrechterhalten?
Ja, darin würde ich keinen Anlaß sehen, meine Kandidatur zurückzuziehen. Es war mir auch schon bekannt, daß er im Gespräch ist.
Gäbe es etwas, was Sie dazu brächte, die Kandidatur wieder zurückzuziehen?
Sehe ich im Moment nicht. Aber die Kandidatur wäre beendet, wenn niemand aus der Bundesversammlung zustimmen würde. Die muß sich diesen Vorschlag zu eigen machen. Interview: Julia Albrecht
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen