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Das Schweinesystem und die Künstler

In Schöppingen, einem kleinen Ort im Münsterland, leben Künstler, Bauern und Schweine in friedlicher Koexistenz / Im „Künstlerdorf“ blühen Literatur, Malerei und Stipendiatentum  ■ Aus Schöppingen Henning Pawel

Das Münsterland ist nicht nur ein Schweine-, sondern auch Künstlerland. Neben glücklichen Borstentieren auf grüner Weid' und ihrem westfälischen Schinken für die Gaumenseligkeit, leben im Künstlerdorf Schöppingen, 30 Kilometer von Münster entfernt, oft für Monate Maler, Bildhauer und Schriftsteller aus aller Herren- aber auch als allen Bundesländern. Es stinkt zwar gewaltig von den gegüllten Feldern in die Ateliers und Schreibkemenaten hinein. Weil halt das richtige Leben nicht nur nach Veilchen riecht. Außerdem, so weiß die Dorflegende zu berichten, soll es gerade der Gestank aus den verwahrlosten und verfallenden Schulzenhöfen im Ortszentrum gewesen sein, der den Gemeindevätern jenen Entschluß, 1987, dem Künstlerdorf zuzustimmen, sehr erleichterte. Der Flecken Schöppingen, 6.000 westfälische Seelen, darunter seit 1989 alljährlich ein paar Dutzend nationale und internationale Künstler und Schriftsteller. Das Umfeld, katholisch, sehr erwerbstüchtig und mißtrauisch allem Neuen und Ungewohnten gegenüber. Allemal ein Wunder, daß ausgerechnet in solcher Gegend das Künstlerdorf seinen Anfang nehmen konnte.

Begonnen hatte alles mit einer Vision. Die zwar verwahrlosten aber eben sehr schönen Schulzenhöfe weckten die Begehrlichkeit des in Nordrhein-Westfalen bekannten und angesehenen Autors und Literaturmanagers Rolfrafael Schroer. Die Gemeinde Schöppingen hatte sich bei ihm als den Erfinder der deutschen Literaturbüros, nach einem Schriftsteller erkundigt, den man, beachtliches Vorhaben für solch einen kleinen Ort, als Stadtschreiber einstellen könnte. Schroer, Multitalent, Schauspieler, Sänger, Autor und Kabarettist, erteilte salomonische Antworten. „Ein Schreiber in Schöppingen ist gut, ein ganzes Künstlerdorf wäre besser.“ Seine Vision wurde wahr, in jenen wiederhergerichteten Schöppinger Schulzenhöfen pulsiert heute das Kunst- und Dichterleben. Was dazwischen war an Mühsal Schroers, der Gemeindeväter, an Anträgen, lobbyistischen Aktivitäten, an positiven und negativen Intrigen, an Feindseligkeit und echter Freundschaft, muß unerwähnt bleiben. Nicht aber die sechs investierten Millionen des Landes Nordrhein- Westfalen, die 1,2 Millionen der kleinen Gemeinde und jene vielen zusätzlichen Spenden, die das große Werk erst ermöglichten. Und nun steht es da, jenes Künstleruniversum, mitten im Ort.

Es ist noch immer so in Deutschland, mit anspruchsvoller Literatur und Kunst seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist unmöglich. Die meisten Autoren sind gezwungen, noch einer anderen Arbeit nachzugehen. Auf der Strecke bleibt dabei häufig großes Talent. Um so begehrter die Stipendien im Schöppinger Literaten- und Künstlerhof. Mehrere hundert bewerben sich alljährlich, etwa 20 gelangen in die engere Wahl, und 16 dürfen kommen. Davon schon längst auch immer einige aus dem Osten. „Denen“, so ein hochherziger 60jähriger Stipendiat von der schwäbischen Alp, „wird ohnehin alles hinten rein geschoben.“ Er sprach's, der liebenswerte Schreibersmann, Jan Christ, selber einmal aus dem Osten gekommen und ging sogleich daran, ein Anschlußstipendium für sich zu beantragen beim Deutschen Literaturfonds in Darmstadt. Und wenn nicht alles täuscht, dann wird er's auch bekommen, wie all die zahllosen Stipendien und Stadtschreiberstellen seines langen Lebens. Bis dahin genießt der generöse Dichter jenes Künstlerdorf, auch als wunderbare Stätte der Begegnung. Man trifft im alten, trefflich renovierten Gemäuer unaufhörlich nicht nur interessierte Einheimische, Schulklassen, literarische Kaffeekränzchen, Touristen, sondern auch fast alles, was Rang und Namen in der Literatur besitzt. Volker Braun, Ulla Hahn, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Jiri Grusa, Günther Kunert, Peter Härtling, Dieter Wellershof, Wolfgang Hilbig, Franz Chodiak, Werner Liersch, Natascha Wodin, Peter Kurzeck, Ilse Braatz und wie sie alle heißen. Zu einer Stippvisite tauchen sie oft unvermittelt auf, zu einer Lesung, Diskussion, einem Vortrag, für ein paar Monate als Stipendiat.

Abends taucht man unter in der Schöppinger Szene. Im „Kaffee- Klatsch“ oder bei „Oma Rock“. Dort trifft man dann die Ureinwohner. Sehr viel Liebe für die schönen Künste. Der Beweis, so manche pralle Tätowierung. Doch die Künstler sind halt nicht so sehr geliebt. „Wir müssen malochen und ihr schaukelt euch die Eier“, so eine der zahllosen bitteren Anklagen aus ortsansässigen Mündern. „Pennen bis um zwölf, da bin ich schon fast fertig mit meiner Schicht. Geht lieber arbeiten, statt uns auf der Tasche zu liegen. Wo kommst du überhaupt her?“

Und da schwindelt jedenfalls der Ossi. Gar zu peinlich wäre es, in seinem Künstlerparasitentum auch noch als einer von da drüben vorgeführt zu werden. Man nuschelt irgendwas von „Furt“ und verschluckt geschickt das „Er“ davor. „Frankfurt“, sagt der Leiter des Verhörs und schüttelt den Westfalenschädel. „Gibt's in Hessen denn wirklich gar nichts mehr für euch abzustauben?“

Unterdessen donnern am mächtigen Kamin des Literatenhofes Debatten. Es lodern Flammen, fuchteln Hände, kreisen Flaschen, Michael Wüstenfeld, Bianca Döhring, Wortführer ist heute auch ein Ossi, das junge Weimar. Der Autor Frank Willmann. Er liest vergnügt sein Werk des Tages und vergnüglich ist's, den Text zu hören. „Über dem Kaukasus lag dein Blauer“, der Titel seines letzten Bandes. Eine phantastisch, parodistische Reproduktion der Werke des längst gestorbenen und verdorbenen Trivialautors Hans Heinz Ewers. Den aber läßt der Dichter jetzt in Frieden ruhen und liest nun von der anderen Sicht der Dinge, vom Schicksal und der Bitterkeit verlorener Jugend, von Widersätzlichkeiten gegen das Regime und der Freundschaft mit dem Dichter Sascha A. Wie dieselbe ausging, kann sich jeder denken.

Auch so manche Merkwürdigkeit im Dichterkosmos Schöppingen. P. hatte im glühenden Frühjahr eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben. Für Rowohlt, im Spätherbst wird sie erscheinen. Ein verrücktes Zeitgefühl, vor blühenden Rhododentren- und Fliedersträuchern über Winterseligkeit zu schreiben. Wüstefeld vergräbt sich in seine gute Lyrik, und Bianca Döhring baut am neuen Roman.

Im Garten sind zwei Künstlerfrauen am Werke. Heike Palanka und Ulrike Holthöfer. Sie entwerfen, graben, pflanzen und gießen. Gärtnerei soll wieder anders definiert sein. So wie einst, als Gartenkunst und knurrender Magen sehr viel enger beieinander lagen. Bald sprießt nun Sellerie gleich neben Veilchen, und Zwiebeln zieren das Rosenbeet. Statt Orchideen zum Stelldichein, befürcht' ich, wird's in Zukunft Weißkohl sein.

Der Hof der bildenden Künstler. Zur Zeit von einem Mann und vier Frauen bewohnt. Anne Berning, Beate Haupt, Annette Haas, Anke Schulte Steinberg und Till Hohn. Lautstark und beredt präsentiert der westfälische Michelangelo, 35, sein jüngstes Projekt. Eine zwölf Meter hohe Mauer zwischen Künstlern und Literaten in Schöppingen will er bauen. Er hat schon vermessen und projektiert. „Der Wall soll endgültig trennen, was nicht zusammengehört“, sagt Hohn nun kolossal ergriffen von seiner Idee. Dann aber schimpft er über die Sponsoren, die für solchen Geniestreich keinen Pfennig sponsern wollen.

Im Atelier die Malerin Beate Haupt, 26 Jahre. Ihr Thema: Spiele der Kinder. Nicht neu das Thema. Aber wie sie's macht. Kindheit als schöner, häßlicher, alptraumhafter, niemals endenwollender, bis in den Tod hineinreichender Zustand. Die Spiele der Kindheit, die uns ein Leben lang begleiten, das Leiden, die Freude, die Gefühle. Nichts ändert sich. Nur unsere Erfahrungen. Kind, das wir bleiben, mit all unseren Hoffnungen, Sehnsüchten und Träumen. Es geht trotz aller Tränen niemals ohne Freude“, sagt Beate Haupt und malt an einem Bild über „Halsschmerzen in Schöppingen“.

Eine Tür weiter ganz andere Dimensionen. 2,75 Meter x 7,10 Meter. Ein Bild der Malerin Anette Haas. Völlig anders solcher Ansatz. Ein Prozeß von Leinwand und Farbe. Keinerlei formale Fixierung mehr und keine Gegenständlichkeit. Nur Wirkungen durch Konfrontation von Farbe mit Räumen und Hintergründen. Formen, die der Betrachter selber finden muß und dann wieder aufgibt, weil immer neue Alternativen möglich sind. Die Motive eigentlich immer nur Ahnungen, die sich erst im Prozeß des Malens kreativ verdichten und sich schließlich manifestieren, deren Wirkungen freilich unglaublich sind.

Über der ganzen Szene liegt neuerdings und immer nachts eine eigenartige Helligkeit. Die Bildhauerin Anke Schulte Steinberg. Ihr Werkzeug nicht Meißel oder Säge, nur der Schalter. Ihr Material das Licht. Steinbergs Kunstwerke entstehen und vergehen wieder, sobald der Hahn kräht und der Morgen heraufdämmert. „Auch jede andere Kunst geht unter“, sagt Schulte Steinberg, „bei Katastrophen oder durch die Zeit.“ Und setzt nun ihr eigenes Erdbeben, den Lichtschalter in Bewegung. Ein guter Ort, dieses Schöppingen. Und, trotz aller Berührungsängste und Befindlichkeiten, auch die Schöppinger sind nicht übel. Zwar wird hier oft und laut gebarmt, über die malenden und schreibenden Drohnen, aber immer wird auch zugeschossen aus dem Gemeindesäckel. Nachahmung wär' wünschenswert.

Auf den Weg ins Heimatland und hoffentlich zum Ruhm begibt sich nun der Stipendiat. Ein wenig „Massel“ freilich gehört noch dazu. Doch Glücksschweine die dafür sorgen gibt's ja wirklich genug hier, wenn sich deren Glück gleichwohl auch jetzt dem Ende zuneigt. Denn wenn der Stipendiat im Herbst seiner Wege zieht, treten auch die glücklichen Rüsseltiere eine Reise an. Nicht weit, nur zum Ortsrand von Schöppingen. Dort liegt das Schweinewaterloo, eine der größten Schlachtanlagen dieser Republik. 5.000 und mehr hauchen hier täglich ihre Seele aus. Welch ein Sujet. Himmel und Hölle ganz dicht beieinander.

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