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Der Kanzler im Teehaus

■ Fernsehübertragung in türkischer Kneipe in Berlin: kaum Interesse

Als die massige Gestalt von Helmut Kohl auf dem Bildschirm erscheint, wird es im türkischen Teehaus „Atlas“ in Berlin-Kreuzberg mucksmäuschenstill. Doch die Konzentration auf die laut durch die Kneipe dröhnende Stimme des Kanzlers ist nur von kurzer Dauer. Nach ein paar Minuten werden an den Tischen wieder die Karten zur nächsten Runde „Pisti“ gemischt, rollen wieder die Würfel über das Backgammonbrett. Nur ein junger und ein alter Mann lauschen der Direktübertragung aus dem Bundestag gebannt – stumm und mit regloser Miene. Nur als Kohl über die türkischen „Extremisten“ spricht, die die Plätze der Trauer mit ihren Baseballschlägern „in Schlachtfelder“ verwandelt hätten, runzelt der 25jährige die Stirn. Und als der Kanzler die Summe von 90 Milliarden Mark nennt, die die ausländischen Arbeitnehmer jährlich als Sozialversicherung berappen, kommt über die Lippen des 59jährigen ein erstauntes „Uff.“ Nein, mit der Ansprache seien sie überhaupt nicht zufrieden, sind sich beide danach einig. Am meisten geärgert habe sie, daß Kohl türkischen Randalierern die Abschiebung angedroht habe. Nach fünf Toten sei doch völlig klar, daß die Jugendlichen auf die Straße gegangen seien. „Daß ist doch keine Gleichbehandlung, wenn wir wegen Waffenbesitzes abgeschoben werden, und die Deutschen für solche Anschläge wie in Solingen höchstens fünf Jahre Strafe befürchten müssen“, ereifert sich der Jüngere. Mindestens genauso geärgert hat die beiden, daß Kohl in seiner Rede kein einziges Mal die Arbeitslosigkeit der Ausländer als Folgeerscheinung der Wende erwähnte. Er sei seit 1991 arbeitslos, berichtet der Jüngere, der Schleifer ist. Er habe seither ein einziges Angebot bekommen. „Ich sollte für 13 Mark die Stunde anfangen, unter Bedingungen, wie sie nicht einmal einem Schwein zugemutet würden.“ Seinen Eltern, die seit 20 Jahren in Deutschland seien, sei ebenfalls 1991 gekündigt worden. „Sie haben eine lächerliche Abfindung bekommen.“ Plutonia Plarre, Berlin

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