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SanssouciVorschlag

■ „Stille Nacht“ von Harald Müller am Hans-Otto-Theater

„Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin alt“, erklärt die Greisin im Altenheim ihrem Sohn und nimmt sich das Recht zu unterhaltsamen Schamlosigkeiten. Sie will gefallen. Wie nebenbei öffnet sie die Schrankhälfte ihrer kürzlich verstorbenen Zimmergenossin und bemerkt in die Leere hinein: „Das war Helga Koch.“ Irgendwo im Haus hört man einen Alten-Chor Weihnachtslieder summen. Die nicht mehr in die Familien geholt werden, üben für die Heimfeier. Die Greisin ist stolz bis zur Überheblichkeit, von dieser einsamen Gemeinschaftsübung ausgenommen zu sein. Überraschend ist ihr Sohn zu Besuch gekommen.

Mit erhobenem Zeigefinger weist Harald Müllers Dramolett aus dem Jahre 1973 auf die Entfremdung zwischen den Menschen in den kapitalistischen Verhältnissen hin. Das Band zwischen Mutter und Sohn zerreißt er in Klischees, reichlich und fett: Der Sohn als Nachfolger und Versager in der Schlachtfabrik seines Vaters ist auf den Verkauf von Immobilien im Besitz der Mutter angewiesen. Um im Geschäft zu bleiben, kämpft er mit Dumping-Strategien. „Blutwurst zum Selbstmordpreis auf den Markt geworfen.“

Müller hatte 1973 den richtigen Klassenstandpunkt und wurde als westlicher Autor auch in der DDR gedruckt und gespielt. Heute wirkt seine Zeitzeugenschaft veraltet, selbst im kaptialistisch derzeit umgetriebenen Osten. Am Potsdamer Theater nutzt der junge Regisseur Denis Frank die Klischees des sozialkritischen Lehrstücks überraschend als dankbares Material für zwei komische Typen, es entsteht ein Schauspielertheater. Gertraud Kreißig ist eine Greisin, die sich noch einmal mit Witz, Erfahrung, Hilflosigkeit, weiblicher Intuition und List aufbäumt, um ihrer endgültigen Versenkung im Heim zu entgehen, bis sie sich dann mit Wehleidigkeit, Rechthaberei, Erpressung und Muttertyrannei an den Sohn klammert. Michael Schenk als ihr Sohn wählt den selteneren Weg, seine Figur toternst zu präsentieren. Die Panik, in die ihn die wirtschaftlichen Rückschläge versetzen, übertüncht er mit den schrillen Gesten, die den ruhigen, überlegten Geschäftsmann herauskehren sollen. Langsam steigert er sich von Verkrampfung zu Verkrampfung, bis er sein Ziel erreicht.

Die Lust an den so entstandenen zwei komischen, hintergründig verzweifelten Figuren, die ihre Wahrheit hinter Vorspiegelungen verbergen, ließ fast vergessen, was das Programmheft mit Erfahrungsberichten von Alten im Heim und Analysen zum langen Lebensabend und seinen immensen Gesundheits- und Unterhaltskosten noch angekündigt hatte: eine Bevölkerungsapokalypse. Berthold Rünger

„Stille Nacht“: Heute im Hans-Otto-Theater, Potsdam

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