Tod in Macau

Die Grabsteine des Alten Protestantischen Friedhofs auf Macau sind steinerne Zeugen der Beziehungen zwischen China und dem Westen. Ein Ausflug zwischen Gräbern auf den Spuren kolonialer Vergangenheit  ■ Von Werner Meißner

Wie im Falle Hongkongs ist auch Macaus Ende als Kolonie nur noch eine Frage von wenigen Jahren. Macau, einst die „Gartenstadt des Orients“, war der älteste Vorposten Ostasiens, auf dem sich das Abendland und der Ferne Osten zuerst begegneten. Mit seiner Rückgabe an China am 20. Dezember 1999 stirbt eine Epoche. Sie begann 1557 mit der Errichtung eines Amtssitzes auf der Halbinsel A-ma-cao durch die Portugiesen.

Neben vielen steinernen Zeugen auf Macau, darunter die berühmte Kirchenruine von São Paulo, erinnert auch der „Alte Protestantische Friedhof“ an die wechselvolle Geschichte der Beziehungen zwischen China und dem Westen. Er liegt am Praca Luis de Camoes, der nach dem portugiesischen Dichter Luis Vaz de Camoes (1524–1580) benannt ist, gleich neben dem Camoes Museum.

Rechts neben einer kleinen Kapelle steigt man entlang einer gelben Mauer ein paar Stufen hinab. Nach links öffnet sich eine Terrasse, ein paar Schritte tiefer erreicht man eine zweite. Unter einem dicken Blattgeflecht von Palmen und anderen tropischen Bäumen stehen zahlreiche Sarkophage, Grabdenkmäler und Grabsteine auf grünem Rasen, gepflegt wie ein Poloplatz. Hier ruhen Schiffskapitäne mit ihren Frauen und Kindern, Kolonialoffiziere, Opiumhändler, Abenteurer, Gelehrte, Diplomaten und einfache Seeleute. Im 18. und 19. Jahrhundert waren sie aus Europa und Amerika nach China gekommen. Auf unterschiedlichste Weise hatte sich ihr Leben mit dieser Region verbunden.

Portugal, einst größte Kolonialmacht der Erde, war im 18. Jahrhundert bereits verarmt. In den Beziehungen zu China bestimmten Anfang des 19. Jahrhunderts Engländer und Amerikaner das Geschäftsleben, in der Hauptsache das Opiumgeschäft. Betrug der Opiumverbrauch 1729 noch 200 Kisten im Jahr, so waren es hundert Jahre später bereits 6.000 Kisten, die den Perlfluß nach Kanton hinaufgeschifft wurden. Und im Jahre 1839, dem Beginn des Opiumkrieges, war der Import bereits auf 30.000 Kisten gestiegen.

Obgleich Engländer und Amerikaner in Macau im Wirtschaftsleben das Sagen hatten, waren sie im Tode benachteiligt. Als Protestanten durften sie nicht innerhalb der Stadtmauern beerdigt werden. Dieses Recht stand nur Katholiken zu. So fanden viele ihre letzte Ruhe auf den Hügeln außerhalb der Stadt oder auf den Inseln des Perlflusses.

Gottes Wort und Opium

Die Gründung des Alten Protestantischen Friedhofes geht auf Dr. Robert Morrison zurück. Morrison war der erste protestantische Missionar in China. Er kam 1807 nach Macau. Seine Chinesisch-Studien waren überaus erfolgreich. So verfaßte er eine chinesische Grammatik und gab ein englisch-kantonesisches Lexikon heraus. Auch gründete er das Anglo-Chinese College auf Malakka. Seine größte Leistung aber war die Übersetzung der Bibel ins Chinesische.

Anläßlich des Todes seiner Frau 1821 setzte Morrison im Auftrag der East India Company bei den Behörden von Macau die Errichtung des protestantischen Friedhofs durch. Denn er war nicht nur Missionar und Gelehrter: Fünfundzwanzig Jahre lang diente er als Dolmetscher und Übersetzer für die East India Company, die hauptsächlich mit Opium handelte. Morrison dolmetschte bei allen Opiumgeschäften.

Er starb 1834. Wegen seiner Verdienste, welcher Art auch immer, wurde die Friedhofskapelle nach ihm benannt. Hier lag früher eine chinesische Bibel, aufgeschlagen hinter altem Glas, und zu lesen waren die vier chinesischen Zeichen für die erste Zeile des Evangeliums des Johannes: „Am Anfang war das Wort“, wobei Morrison „Wort“ mit dem Zeichen dao übersetzte, der Grundvorstellung des Taoismus – eine gewagte Synthese. Heute stehen die Zeichen im Zentrum des Glasfensters in der Apsis.

Neben dem Sarkophag von Morrison liegt auch das Grab seiner Frau Mary. Sie starb laut Inschrift im Alter von 30 Jahren „nach einer kurzen Krankheit von nur 14 Stunden“ und trug dabei zugleich das Kind zu Grabe, mit dem sie schwanger ging.

Eine der buntesten Gestalten in Macau war Thomas Beale. Auf seinem schlichten Sarkophag steht hingegen nur der Spruch: „Sacred to the memory of Thomas Beale.“

Beale machte 1787 in Kanton einen Laden auf. Hier handelte er mit Spieluhren, sogenannten singsongs, aber auch mit Baumwolle, Pfeffer, Sandelholz und anderem. Doch die lustigen Spieluhren und der andere Krimskrams waren lediglich Tarnung: Beale war damals die wichtigste Figur im offiziell verbotenen Opiumhandel. Er fungierte als Banker und Zwischenhändler für die verschiedenen Handelsgesellschaften bei deren Handel mit Opium und wurde darüber zum reichsten Opiumhändler von Macau.

Von Spieluhren und seltenen Vögeln

In Macau war Thomas Beale ein angesehener Mann. Er besaß eines der vornehmsten Häuser in der nach ihm benannten „Bealegasse“, und es war ein Privileg, seinen berühmten Garten besichtigen zu dürfen. Darin gab es auch eine große Volière, in der die seltensten und buntesten Vögel flatterten, die seine Agenten in allen Teilen Ostasiens eingefangen hatten.

Doch das Glück blieb Thomas Beale nicht treu: 1815 ließ der Gouverneur der Provinz Guangdong unerwartet Opiumhändler verhaften und einlaufende Schiffe durchsuchen. Beale, der gerade einen großen Opiumdeal zwischen Rio de Janeiro, Kalkutta, Manila und Kanton eingefädelt hatte, wurde mit mehreren hundert Kisten Opium gefaßt, die er aber noch bei der East India Company zu bezahlen hatte. Das Opium war weg, und Beale ging mit 800.000 Dollar Schulden in Konkurs.

So verbrachte er den Rest seines Lebens damit, Besuchern seine seltenen Vögel zu zeigen und nach Möglichkeit seinen Gläubigern auszuweichen.

1841 gab er auf. Er ertränkte sich im Äußeren Hafen von Macau.

Im Dienste Ihrer Majestät

Der Opiumkrieg 1839–41 brachte die Abtretung Hongkongs an England. Er war die erste militärische Niederlage des chinesischen Kaiserreiches gegenüber dem Westen, mit der dieser die Öffnung Chinas erzwang. Dieser Niederlage aber ging ein kleiner Sieg voraus, und der fand in Macau statt.

Lin Zexu, Gouverneur von Hunan und Hubei und kaiserlicher Bevollmächtigter zur Bekämpfung des Opiumhandels, hatte die Briten 1839 kurzerhand gezwungen, Kanton zu verlassen und zum Entsetzen der internationalen Börsen auch noch 20.000 Kisten Opium verbrennen lassen. Die Briten zogen mit ihren Familien zunächst nach Macau, woraufhin Lin mit der Besetzung Macaus drohte. Der Gouverneur von Macau, Silveiro Pinto, fürchtete ein Massaker und veranlaßte die Briten, auch Macau zu verlassen. Wenige Tage später betrat „Commissioner“ Lin Zexu in einer Sedan-Sänfte mit acht Trägern und an der Spitze eines großen, farbenprächtigen Gefolges Macau. Es wurde ein Siegeszug. Die einheimische Bevölkerung feierte ihn, weil er den verhaßten Opiumhandel bekämpfte und Macau nicht angegriffen hatte. Als Lin Zexu und sein Gefolge am Alten Protestantischen Friedhof vorbeizogen, standen portugiesische Einheiten Spalier und feuerten Salut. Ein seltenes Ereignis der Eintracht zwischen China und einem westlichen Staat.

Dem kleinen Sieg folgte schon bald die Niederlage. Unter dem Druck der Opiumhändler beschloß London die Entsendung einer Expeditionsstreitmacht. Wenige Monate später erstürmten britische Einheiten die Befestigungen von Kanton, danach stieß die britische Flotte nach Norden vor und besetzte mehrere Häfen.

Die Schlachten waren kurz, aber blutig. Auch die Briten hatten Opfer: An sie erinnern mehrere große Denkmäler. So an Captain Sir Humphrey Le Fleming Senhouse, Commander der Britischen Flotte in den Chinesischen Meeren. Er starb an Bord des Schiffes Seiner Majestät, H.M.S. Blenheim, am Fieber, das er sich, laut Inschrift, „infolge einer Verletzung bei der Einnahme der Höhen Kantons“ 1841 zugezogen hatte.

Mit dabei, als es gegen die Chinesen ging, war auch Captain Daniel Duff vom 37. Regiment der Madras Native Infantry, 39 Jahre. Er liegt gleich daneben. Der dritte im Bunde war Lieutenant Edward Fitzgerald von der H.M.S. Modeste. Auch er starb 1841 in Macau an den Folgen einer Verwundung, die er erhielt, während er, laut Inschrift, „heldenhaft die GeFortsetzung nächste Seite

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schützbatterien des Feindes bei Kanton erstürmte“.

Die drei Denkmäler sind um das große Grabdenkmal von The Right Honorable Henry John Spencer Churchill herum gruppiert. Churchill starb 1840 als Kapitän der H.M.S. Druid. Der ehrenwerte Lord, zugleich rangältester Offizier in der chinesischen See, war der Urgroßonkel von Sir Winston Churchill.

Von der Glückseligkeit zur Malerei

Nicht nur die steinernen Zeugen von „Gottes Wort“, von Opiumhändlern und britischen Kolonialoffizieren liegen unter den schattigen Hainen. Auch die Kunst ist vertreten: Am Ende der ersten Terrasse ist ein etwa drei Meter hohes Denkmal in die Wand eingelassen, auf dem ursprünglich nur ein Name stand: George Chinnery.

Chinnery, 1774 in London geboren, stammte aus Irland. Nach Macau kam er 1825, wo er 1852 starb. Seine Heimat verließ er aus zwei Gründen: der erste war politischer Natur, der zweite, so sagt man, war seine Fraue Marianne: Nach einer kurzen Phase inniger Glückseligkeit verbrachte er den Rest seines Lebens damit, seiner Marianne zu entkommen.

Dies gelang ihm dann endlich in Macau. Andere Quellen behaupten, er hätte auch Schulden in Madras und Kalkutta gehabt und sich nach Macau abgesetzt, um seinen Gläubigern zu entgehen.

Chinnery, ausgebildet an der Royal Academy, war der größte westliche Maler in China. In den 27 Jahren bis zu seinem Tode hat er Hunderte von Portraits, Landschaftsbildern und Straßenszenen gemalt und damit der Nachwelt einen einzigartigen Schatz hinterlassen, der Auskunft über das Leben in Macau gibt. Man sagt, es habe kaum einen Ausländer oder Schiffskapitän gegeben, der nicht mit seinem Portrait von Chinnery unter dem Arm die Halbinsel wieder verlassen hätte.

Seine Kohlezeichnungen, Aquarelle und Leinwandbilder finden sich heute in berühmten Galerien: im Peabody Museum in Massachusetts und im Victoria and Albert Museum in London, in der Oriental Library in Tokio und in der Socieda de Geografia de Lisboa. Nur wenige Stücke finden sich in Hongkong und Macau selbst. Sie sind überwiegend in den Räumen der Hongkong und Shanghai Bank ausgestellt.

Manche Grabsteine werden wohl nie ihre Geheimnisse preisgeben. Wer war Elizabeth Mc. Douglas Gillespie? Geboren am 6. Juni 1814 in New York, gestorben 1837 in Macau. Die Inschrift läßt nur den Schmerz des im Leben zurückgelassenen Geliebten erahnen: So hat „ein liebender Wächter über dem Grabe seines geliebten Schützlings den Grabstein errichtet“.

Ein Jahr jünger war R.V. Warren, als er „an Bord des Schoners ,Kappa‘ von Chinesen ermordet wurde, während der Fahrt von Macao nach Whampoa in der Nacht des 29. Oktobers 1844“. Den Grund nennt die Inschrift nicht.

Im fernen Land

Die große Mehrheit der 162 Gräber beherbergt vor allem die Überreste von Engländern, dann Amerikanern und ein paar Holländern. Auch ein Schwede ist darunter. Er schrieb die erste Geschichte Macaus. Sie erschien 1834 als Buch. Im Jahr darauf starb er: „Anders Ljungstedt, Ritter von Wasa, Gelehrter und Philanthropist“.

Auf dem Friedhof liegen auch drei Deutsche. Ihre Grabsteine sind unauffällig, dafür hat aber ein Deutscher gleich zwei Grabsteine. Die Inschriften sind alle auf deutsch.

Der älteste Grabstein ist F.W. Schnitger aus Pleuhn (Plön?) in Holstein gewidmet. Er starb „nach vielen Leiden in Macao“ am 30. Mai 1807. Fünfzig Jahre später folgte ihm Walter Schäffer von Altena in Westphalen, gestorben am 1. Juli 1857.

Im selben Jahr starb auch Capleia Christian Ipland Fon Apenrade. So steht es auf dem ersten Grabstein. Ipland war es, dem dann die Ehre eines zweiten Grabsteins zuteil wurde. Dieser trägt die Inschrift:

„Hier schlummert Christian Johann Friedrich Ipland. Geboren zu Apenrade, den 30. Juni 1818, gestorben zu Macao, den 5. Oktober 1857. Sanft ruhe Deine Asche, Du müder Wanderer.“

Die Erklärung für den zweiten Grabstein liefert eine zweite Tafel in Deutsch und darunter in Englisch:

Die Witwe sandte diesen Stein aus Deutschland

Aus Furcht der erste würde bald verfallen

Nun künden beide Christian Iplands Tod im fernen Land.“