Tod und Schweigen in der Bucht des Verrats

■ Brasilien: Unterentwicklung als Spiegel der Menschenrechtsverletzungen

Recife (taz) – In 500 Jahren hat das wunderschöne Fleckchen Erde im Nordosten Brasiliens, das Baia da Traicao heißt und ganze 5.000 Seelen zählt, nur dreimal von sich reden gemacht. Das erste Mal, als es seinen Namen bekam: Baia de Traicao heißt „Bucht des Verrats“ und verdankt diesen Namen einer Frauenlist aus der Zeit der Reisen des italienischen Kartographen Amerigo Vespucci. Als er im Jahre 1501 in dieser Bucht zwischen Recife und Natal vor Anker ging, winkten Frauen vom Indiovolk der Potiguara seinen Matrosen freundlich zu, um sie dann, als sie sich näherten, zu töten. In die von den Siegern geschriebene brasilianische Kolonialgeschichte ging diese Episode als schnöder Verrat ein.

Daran erinnerte man sich, als Baia de Traicao zum zweitenmal von sich reden machte: Ende des Jahres 1992 ging zur allgemeinen Überraschung eine Frau als Siegerin aus den Kommunalwahlen hervor. Eine Bürgermeisterin statt eines Bürgermeisters ist in Brasilien nicht alltäglich. Zudem aber handelte es sich bei der Wahlsiegerin Iraci Cassiano Soares um eine ganz besondere Wahlsiegerin. Denn Iraci, meist „Nancy“ genannt, ist eine Indiofrau – die erste und bisher einzige Bürgermeisterin indianischer Abstammung in der Geschichte Brasiliens.

Nancy-Iraci war zur Zeit ihrer Wahl 48 Jahre alt. Vier Jahre lang durfte sie selbst zur Schule gehen, dann begann sie, ihr Wissen als Lehrerin weiterzugeben. Als der Staat dekretierte, man müsse eine Lehrerausbildung haben, um in der Alphabetisierungsarbeit tätig zu sein, wurde sie Hebamme. 1982 kandidierte sie für das Gemeindeparlament und erhielt auf Anhieb die höchste Stimmenzahl. Einige Jahre nach der Geburt ihres zweiten Sohnes bekam sie Unterleibskrebs; nach der Totaloperation erklärte ihr Ehemann, sie sei zum Mann geworden, und verließ das Haus. Als sie 1992 für das Amt des Bürgermeisters kandidierte, hieß es, sie sei doch „nur eine Negerin“, die sich „nur im Urwald zurechtfinden“ könne. Doch nach ihrem Wahlsieg holte sie sich einen fähigen Verwaltungsfachmann namens David Falcao als Vizebürgermeister, um die Allmacht der Zuckerrohrkonzerne zu brechen.

Dann machte das Städtchen zum dritten Mal von sich reden. Am 12. Februar wurde David Falcao von einem Killerkommando aus nächster Nähe mit zwei Kopfschüssen getötet. Jetzt liegt er auf dem kleinen Gemeindefriedhof im Stadtteil São Miguel, neben einer uralten verfallenen Kirche, die Eingeweihten zufolge aus den Tagen der holländischen Besatzung stammen soll – hoch über der „Bucht des Verrats“.

Der Tod von David Falcao – er gehörte ebenfalls zum Volk der Potiguara – hat die kleine Gemeinde, die zumeist aus einer Reihe von Indiosiedlungen in unzugänglichem Wald- und Sumpfgelände besteht, entsetzt. Im Januar noch hatte „Nancy“ eine Messe für indianische Produkte ins Leben gerufen, auf der zum ersten Mal einheimische Frauen ihre Erzeugnisse verkaufen sollten. Doch dann kam das Attentat, kam die Beerdigung, bei der die ganze Gemeinde auf den Beinen war – und dann die Stille.

Vier des Mordes an David Falcao Verdächtigte sitzen in Untersuchungshaft. Doch waren sie wirklich die Killer? Und wer waren ihre Auftraggeber? Eine Theorie geht in Richtung des Ex-Bürgermeisters. Unter dem Vorwand, neue Straßen bauen zu wollen, hatte er 220 geschützte Kokospalmen fällen lassen. Eine von der Umweltbehörde auferlegte Buße ignorierte er. Statt dessen verschenkte er das gesamte Grundeigentum der Gemeinde – 16,8 Hektar in unmittelbarer Nähe eines der schönsten Strände Brasiliens – an einflußreiche Freunde. Diese parzellierten die Grundstücke und verkauften sie weiter, als Bauland. Seither sind die schönsten Strandlagen durch eine wild wuchernde vierreihige Bebauung verschandelt – Ferienhäuser für wohlhabende Bürger der nahen Großstädte. „Der Gemeinde gehört keine Handbreit Boden mehr“, hatte David Falcao wenige Tage vor seinem gewaltsamen Tod erklärt. „Die Fahrzeuge der Stadtverwaltung müssen nachts auf der Straße stehen.“ Nach einer öffentlichen Anhörung vor dem Rechnungshof des Bundesstaates werde wieder für klare Verhältnisse gesorgt, hatte er selbstbewußt verkündet. Dann kam der Mord.

Ein anderer Verdacht geht in die Richtung der fazendeiros, der Großgrundbesitzer der Gegend, die Indianerland okkupieren und mit Zuckerrohrplantagen überziehen, während die vertriebenen Indios trotz ihres mit einer Urkunde aus dem Jahr 1867 verbrieften Eigentums an dem Land in den unzugänglichen Sümpfen und Wäldern Hunger leiden. „Wenn der Regen kommt, können wir keine Aussaat machen, weil alle unsere Länder mit dem verdammten Grün der Zuckerrohrplantagen bedeckt sind“, klagten Indios bei einem Go-in in die Redaktion der Regionalzeitung O Correio de Paraiba – am selben Tag, an dem Falcao die Rückgängigmachung der illegalen Schenkungen des Ex-Bürgermeisters ankündigte.

Man kann die Bürgermeisterin besuchen. In der Mittagspause sitzt sie barfuß auf der Veranda ihres ärmlichen Hauses. Zwei städtische Angestellte stellen verschiedene Entwürfe für ein neues, touristisch orientiertes „Stadtwappen“ vor. Nancy-Iraci ist die Ruhe selbst. Nur ihr Leibwächter, die Hand immer am Griff seines entsicherten Revolvers, scheint völlig übermüdet. Wenn die Pause zu Ende geht, fährt er Iraci den knappen Kilometer bis zu dem winzigen weißen Rathaus. Niemand kann verantworten, die Bürgermeisterin zu Fuß gehen zu lassen. Denn seit jenem Februartag warten Iraci, ihr Leibwächter und ihre beiden Söhne auf drei oder vier unbekannte Männer in einem dunklen Auto. Dann wird Baia de Traicao ein viertes Mal von sich reden machen. Sebastian Schnerer