: Zwischen den Ohren
■ RIAS jubiliert: 20 Jahre Kunstkopf
Der Kopf ist von Natur aus künstlich – eine komplizierte Maschine, die den Standort von Schallquellen orten kann, weil sie die minimale Zeitdifferenz berechnet und auswertet, die die Schallwellen brauchen, um ein Ohr nach dem anderen zu erreichen. Den Kopf kann man auch nachbauen – zumindest was seine akustischen Eigenschaften betrifft. Setzt man als Ohren zwei Mikrofone ein und hört sich das aufgezeichnete Ergebnis über Kopfhörer an, heißt das „kopfbezogene Stereophonie“ und ergibt einen täuschend echten Höreindruck von der räumlichen Verteilung von Stimmen, Geräuschen und Musik.
Im Hörspiel-Sommerprogramm des RIAS sind jetzt die Tücken des künstlichen Raumklangs wieder zu hören: der „Vorne“-Höreindruck wandert nach hinten, und die Störgeräusche, die dem UKW-Empfang oder der Analogtechnik zuzuschreiben sind, sind zu überhören. Das wird die „Vinyl“-Anhänger, die ihr Recht auf Rauschen gewahrt sehen, freuen. Für Digital-Freaks, deren Radio längst an Kabel oder Satellit hängt, eine historische Exkursion: Perfektion der Simulation, die schon vor 20 Jahren möglich war. Zur Funkausstellung 1973 hatte der RIAS als letzte deutsche Rundfunkanstalt, die noch mono sendete, den Kunstkopf auf der Berliner Funkausstellung vorgestellt – und zwar mit einem 110 Minuten langen Science-fiction-Reißer namens „Demolition“ von Ulrich Gerhardt u.a., der heute abend um 20 Uhr gesendet wird. „Demolition“ – Großkonzerne beharken einander mit geheuerten Gedankenlesern, Endkampf zwischen den letzten beiden verbliebenen Wirtschafts-Imperien des Sonnensystems. Das ist heute ein Klassiker der negativen Utopie, wie auch Walter Adlers „Centropolis“, das am 9. Juli, 15.35 Uhr auf DS-Kultur läuft.
Insgesamt wiederholt der RIAS zu Ehren des Kunstkopfs acht Produktionen jeweils mittwochs um 20 Uhr. Neben actionreicher Science- fiction kommt es auch zu Rückfällen in die Hörspielästhetik der 50er Jahre. In „Auf dem Chimborazo“ (14.7.) von Tankred Dorst (1974), einem psychologistischen Kammerspiel, zeigt sich die Fortsetzung der Einfühlungsdramaturgie mit anderen Mitteln: Das Drama soll sich im Kopf des Zuhörers abspielen. Da das ja sowieso immer der Fall ist, wollte das „Neue Hörspiel“ als totales Schallspiel nicht das Hirn, sondern den Hörraum des Rezipienten besetzen. Natürlich ist der Zwang, sich über Kopfhörer an die Maschine anzuschließen, totalitär, konstituiert aber auch eine neue Aura des Kunstwerkes.
Daß das neue Medium die Ästhetik seiner Inhalte nicht determiniert, zeigen andere Beispiele der RIAS-Reihe: „Komm mit mir nach Chipude“ (21. Juli) von Christoph Gahl oder „Berlin hören“ (18. August) von Klaus Krüger und H.-U. Minke verweisen auf die dokumentarischen Möglichkeiten der neuen Aufzeichnungstechnik.
Das 20jährige Jubiläum des Kunstkopfes ist zugleich das neunte Jahr seines Scheintodes, denn 1984 wurde das letzte Kunstkopf-Hörspiel des RIAS produziert: Thomas Walthers „So lebte er hin“ (8. November), ein sozialkritisches Bauernhörspiel.
Die hohen Anforderungen an die Präzision von Produktion, Dramaturgie und Regie und natürlich an mediengerechte Vorlagen machen die Kunstkopf-Aufnahmetechnik zu einem Luxus, den sich die Öffentlich-Rechtlichen so nicht mehr leisten mögen. Der Siegeszug der kopfbezogenen Stereophonie ist aber nicht mehr aufzuhalten, denn wenn's der Rundfunk nicht macht, machen's die Virtual-Reality-Freaks. Erst „Eyephone“ und „Earphone“ zusammen ergeben das wahre „Headphone“. Bei Überlastung des menschlichen Hirns durch die Datenströme kann man die Apparatur ja immer noch einem Kunstkopf aufsetzen. Jochen Meißner
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