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Hypnose durch die weiße Schlange ICE

■ Die Bahn kommt in Schwung / Doch wer mitfahren möchte, muß erst einmal anstehen

Doch, die Werbeplakate der Bahn sind schon irgendwie ansprechend. Wie auf einer Schnur aufgezogene Perlen schlängelt sich Waggon an Waggon durch die Idylle des deutschen Mittelgebirges oder durch die Leere der norddeutschen Tiefebene. Natürlich verschweigen die Hochglanzplakate etwas – nämlich welchen Weg Bahnreisende zu beschreiten haben, bevor sie sich erschöpft in die Sitze von Großraum- oder Abteilwagen fallen lassen können.

Seit Mai ist Berlin an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn angeschlossen, seit vergangenem Samstag fährt das Vorzeigeprojekt der Bahn, der Intercity Express (ICE), sogar zum Bahnhof Zoo. Doch ein schnelles Tempo erreicht die Bahn – mit hohem Aufwand – bisher nur auf dem Schienenweg. Wer so etwas Einfaches will wie eine Fahrkarte lösen, steckt leider im Stau. Seit Mai arbeitet das damals eröffnete Reisezentrum im Bahnhof Zoo, und obwohl vor der Eröffnung versprochen wurde, alles werde besser, war es auch vergangene Woche nichts Ungewöhnliches, daß Bahnkunden über eine Stunde im Stehen auf ein Ticket warteten. Ein Bild, das die Werbewelt vornehm verschweigt. Es beschleicht einen das Gefühl, daß die Bahnchefs in den vergangenen Jahren wie Hasen auf die weiße Schlange ICE gestarrt haben müssen und beim hypnotisierten Blick auf das Prestigeobjekt alles andere vergaßen.

Aber nicht nur der Kampf um die Karte ist schwierig. Wie eine Horrorgeschichte liest sich die Beschwerdeliste der Berliner Fahrgastinitiative IGEB. Fast täglich komme es zu Verspätungen (ohne daß die Fahrgäste rechtzeitig oder überhaupt informiert werden), Züge hielten auf dem Bahnhof Zoo bis zu einer Stunde (ohne Durchsage), Wagen zwei Wochen lang nicht gereinigt, D- und Eilzüge in die neuen Bundesländer seien am Wochenende überfüllt, und in neun von zehn Fällen seien die Wassertanks in den Toiletten leer. „Ein Skandal“, beschwerte sich IGEB-Mitarbeiter Norbert Gronau vergangene Woche.

Doch mit den Vorwürfen ist das so eine Sache. Manche Beschwerden seien zu pauschal und von daher von der Deutschen Reichsbahn (DR) nicht nachprüfbar, erläuterte DR-Sprecher Manfred Herrmann der taz. Und die Pünktlichkeit leide an den vielen Baustellen, die aber nötig seien, weil mit ihnen schließlich das Streckennetz verbessert werde. Im Juni seien aber zwei Drittel der insgesamt 9.311 Fernzüge am jeweiligen Bahnhof im Gebiet der Reichsbahn auf die Minute genau angekommen. Von den verspäteteten Zügen hatte ein Achtel (1.464) ihre Fahrzeit um weniger als fünf Minuten überschritten. Ein zweites Achtel (1.218) verfehlte sein Zeitsoll um weniger als 15 Minuten, und nur jeder zehnte Zug hatte mehr als 15 Minuten Verspätung.

Weil Zahlen wenig aussagen, hilft ein Vergleich mit dem Flugverkehr. Ein Blick in die Statistik zeigt nämlich, daß in den ersten drei Monaten dieses Jahres etwa jedes fünfte Flugzeug mit mehr als 15 Minuten Verspätung in Tegel landete. Im Vergleich zu Düsenflugzeugen sind Intercity Express, InterCity, EuroCity und InterReggio also doppelt so zuverlässig. Mal abgesehen davon, daß durch aufwendige Ausweis- und Gepäckkontrollen die Fluggäste ohnehin vor Abflug auf dem Airport bereits eine Stunde Zeit verlieren.

Weil es im Gegensatz zum Fliegen beim Bahnfahren keine Reservierungspflicht gebe, komme es schon vor, daß Züge überfüllt seien, bestätigt DR-Sprecher Herrmann die Kritik der IGEB. Aber, sagt der Sprecher, die Auslastung der Züge werde gezählt, und eine regelmäßige Überfüllung von Zügen in die neuen Bundesländer sei bisher nicht festgestellt worden. In solchen Fällen würde selbstverständlich, wie von der IGEB gefordert, ein oder zwei Waggons angehängt. Manchmal könnten Züge auf bestimmten Abschnitten einer Strecke überfüllt sein, räumt Herrmann ein, weil sie dort die Aufgabe des Nahverkehrs miterfüllten – aber deshalb etwa für die gesamte Strecke Berlin–München den Zug zu verlängern sei nicht zu rechtfertigen, wenn die zusätzlichen Wagen ansonsten leer wären.

Die Schwierigkeiten im Reisezentrum Zoo werden dagegen vor Ort wie auch in der Reichsbahn unumwunden zugegeben. Inzwischen seien die 19 Schalter zwar schon übersichtlicher organisiert, aber der Massenandrang zu Rush- hour-Zeiten sei nicht zu bewältigen, sagt Herrmann. Das sei durch einen hohen Krankenstand bedingt, aber auch durch ein unflexibles Dienstrecht. Damit zu Spitzenzeiten wesentlich mehr Personal verfügbar sei, müßte dieses Recht geändert werden. Eine Besserung ist vorerst also nicht in Sicht, da ist es ratsam, Fahrkarten im DER-Reisebüro zu lösen. Vom Reisezentrum ist IGEB-Vorsitzender Gerhard Curth aber sowieso enttäuscht. Unterm Strich sei in den letzten beiden Jahren am Zoo ein einziger Schalter dazugekommen, obwohl sich die Zahl der Kunden verdoppelt habe. Nichtsdestotrotz: Bunte Bilder von Zügen im Mittelgebirge bleiben ansprechend. Dirk Wildt

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