: Kartell der Parteieliten
■ Klaus von Beyme auf den Spuren des Modebegriffs „politische Klasse“
Die Gezeiten von Tagespolitik und Publizistik schwemmen Begriffe an, die unversehens in aller Munde sind, um früher oder später ebenso rätselhaft zu verschwinden, wie sie auftauchten. So etwa jene „Zivilgesellschaft“, die nach dem Revolutionsjahr 1989 emphatisch beschworen wurde. Der Politologe Klaus von Beyme versucht, dem jüngsten dieser Modeworte, dem der „politischen Klasse“, auf die Spur zu kommen.
Der Begriff geht auf Gaetano Mosca zurück, der eine Theorie der Herrschaft organisierter Minderheiten entwickelte. „Herrschende“ oder „politische Klasse“ und „Clique“, „organisierte“ oder „regierende Minderheit“ gerieten darin zu vagen Synonymen. Moscas classe politica ist geprägt vom Milieu eines konstitutionellen Regimes, das oligarchische Strukturen aufwies und ein allgemeines Wahlrecht nicht kannte. Damit läßt sich heute keine Theorie der politischen Führung entwerfen.
Beyme geht von der These aus, daß die politische Klasse als „Kartell der Parteieliten“ von den Eliten in Wirtschaft, Kultur, Medien und auch der Politik abgrenzbar ist. Die politische Elite ist der „innere Zirkel“ der weitergefaßten politischen Klasse. Es scheint, als sei diese Unterscheidung nicht trennscharf durchzuführen; Beyme selbst betont die Überschneidungen. Zur politischen Klasse gehört, „wer an den Privilegien von Regierung, Parlament und einer politisch orientierten Spitzenverwaltung teilhat“ – eine nicht gerade sensationelle Entdeckung. Beymes Konzept ist dennoch aufs Ganze überzeugend, eben weil es einen empirisch-analytischen, nichtdenunziatorischen Begriff der politischen Klasse konturiert.
Die Frage nach den aktuellen Vernetzungsformen der „organisierten Minderheit“ führt zum Parteienstaat. Max Weber arbeitete die parteiorganisatorischen Aspekte moderner Herrschaft heraus, ohne so etwas wie Moscas classe politica in den Blick zu nehmen. Beide Ansätze fließen zusammen in Beymes Theorie der „politischen Klasse im Parteienstaat“. Im Mittelpunkt steht die „Kolonialisierung“ von Staat und Gesellschaft“, durch die Parteien, die hierzulande und in Italien besonders ausgreifend ist. Beyme belegt dies mit zahlreichen Fakten.
Eine originelle Wende besteht darin, die Korruption unter anderem als „umgekehrte Kolonialisierung“ zu interpretieren. Die Infiltration der Parteieliten durch gesellschaftliche Interessen wertet Beyme als Beleg, daß die politische Klasse nicht jener monolithische Machtblock ist, als der sie gerne mystifiziert wird. Gegenkräfte sieht er vor allem in unabhängigen Medien und starken Rechten parlamentarischer Minderheiten.
Die nach 1945 beschleunigte Entideologisierung und das gemeinsame Interesse an dauerhafter staatlicher Alimentierung schufen erst jene Volksparteien, deren zusammenrückende Eliten als „politische Klasse“ beschrieben werden können. Der Stil des „kooperativen Parlamentarismus“ tat ein übriges, maßvoll oppositionelle Gegeneliten einzubinden. Trotzdem sind die Parteien nicht zur „pluralen Fassung einer Einheitspartei“ denaturiert, wie Johannes Agnoli 1968 in seiner syndikalistisch inspirierten „Transformation der Demokratie“ kritisierte.
Die oft beklagte soziale Abgehobenheit der politischen Klasse ist ein Aspekt der generellen Distanz des Parteienstaats zu Wählern und auch Parteimitgliedern. Sie wächst im Zuge der Etatisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung der Politik. Wo sich neuerdings der „Populismus von oben“ mit dem „von unten“ verschränkt, ist Vorsicht geboten. Paternalistische Anklänge in der Attacke des Bundespräsidenten werden ebenso hinterfragt wie Argumente des Steuerzahlers oder voreiliges Krisengerede.
Klaus von Beyme hat ein solides Stück politischer Aufklärung geschrieben. Es mag stellenweise eine Idee zu staatstragend, zu ausgewogen, zu antiplebiszitär geraten sein. Wo indes der Obskurantismus blüht, ist nüchterne Politikwissenschaft notwendiger denn je. Auch Verdruß will gelernt sein. Horst Meier
Klaus von Beyme: „Die politische Klasse im Parteienstaat“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1993, 222 Seiten, 20 DM
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