: Das Unmögliche dauert
„Die kleine Schachtel“ — Ein Lyrikband des serbischen Dichters Vasko Popa (1922-1990) ■ Von Balduin Winter
Der Balkan-Reflex wirkt bereits ganz pawlowmäßig: Hören wir „Ex-Jugoslawien“, zieht unser Hirn die Lefzen hoch, schaltet unser Denken sofort auf die Kategorien des Krieges. Der allabendliche TV-Bericht gewährleistet die Konditionierung. Schalten wir aber einmal auf die schmale Sendefrequenz der Kultur weiter, so entdecken wir trotz einer Kakophonie von Störgeräuschen rasch, daß uns gerade diese Region Hochwertiges zu bieten hat – noch immer und trotz allem. Auf dieser Frequenz sendet auch der Wieser-Verlag in Klagenfurt/Celovec, der soeben einen Gedichtband eines der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker dieses Raums herausgebracht hat: „Die kleine Schachtel“ des Serben Vasko Popa, geboren 1922 im Banat, gestorben 1990 in Belgrad.
Öffnet man „Die kleine Schachtel“ (aber Vorsicht: „Aus ihr wird die Himmelsmütze herausfallen“), so entrollt sich eine Art lyrischer Biographie. Sie enthält eine von Popa mit seinem Freund und Übersetzer Milo Dor zusammengestellte Auswahl von Gedichten aus dem Gesamtwerk – ein Volksmythen und Moderne, Folklore und Surrealismus verdichtendes, zumeist in Zyklen gefaßtes poetisches Universum. Sie setzt im Kanonendonner des Zweiten Weltkrieges ein und endet im Trommelwirbel der Propagandisten des nahenden großserbischen Krieges. Gleich von den ersten Seiten schlägt dem Leser das Entsetzen über die Monstrosität einer Welt entgegen, in der noch die harmlosesten Dinge feindselig auftreten und aufeinander losgehen: „Der eiserne Apfelbaum / hat mir mit seinem Stamm den Schädel durchstoßen“. Aber der Mensch ist nicht nur Opfer, sondern selbst Teil des Absurden; im Gedicht „Der Widerhall“ beginnt ein leeres Zimmer zu knurren, Decke, Wände, Boden und Ecken geben Hundelaute von sich, der Mensch wirft ihnen zur Beruhigung Knochen zu, doch der leere Raum läßt sich nicht befrieden, er fängt an zu heulen, und der Dichter verwandelt sich „in den hundertfachen Widerhall des Geheuls“.
Der Ton wird wohl in der Folge ruhiger, auch in der Form spürt man das Ringen um Harmonie, um Proportion, das Streben nach dem Ideal des „ästhetischen Puritanismus“, der sich mit Popas ausgeprägter Neigung zu starken Kontrasten verschränkt: Klassizismus plus Barock. Die Ruhe aber ist trügerisch; „Der grüne Schrecken sprießt / in den zahmen Falten“ und „das Unmögliche dauert“. Es dauert und schlägt am Ende mit unvorhersehbarer Wucht noch einmal los. Zuvor aber schlägt Popa noch ganz andere, überraschende Töne an.
Die frühen Gedichte zeigen, daß er stark vom Surrealismus beeinflußt ist. Dieser war die dominierende poetische Form in der jugoslawischen Literatur der Vorkriegszeit. Seine Vertreter, durchweg Linke, nahmen am antifaschistischen Widerstand teil und befürworteten später die gesellschaftliche Umwälzung. Dennoch gerieten sie in die Schußlinie der kommunistischen Kulturpolitik, die die Literatur für politische Zwecke zu instrumentalisieren gedachte: „Meine jungen Obstbäume der Freude / möchten sie fällen / Die Nachtigallen aus den Liedern / vor den Holzpflug einspannen“, schreibt Popa 1950 über diese Versuche. Der Bruch Stalins mit Tito ersparte Jugoslawien die Formalismusdebatte, die im Surrealismus eine dekadente und reaktionäre Strömung sah. Dagegen wirkte sich die in Jugoslawien allmählich einsetzende Liberalisierung auf die Entspannung des Verhältnisses zwischen Politik und Kunst aus; auf dem 3. Jugoslawischen Schriftstellerkongreß 1952 in Ljubljana hielt Miroslav Krleža eine programmatische Rede über die Freiheit der Kultur. Popa, der unter sowjetischen Bedingungen ein geächteter Dissident geworden wäre, kann 1953 seinen ersten Gedichtband herausbringen. Aus diesem Band sind einige Gedichte für „Die kleine Schachtel“ übernommen worden, darunter auch der Zyklus „Weit in uns“.
Dieser zeigt eine noch ganz andere Dimension in seinem Schaffen. Als Schlüssel dazu kann der Hinweis Milo Dors in seinem Nachwort dienen, daß der Einfluß der deutschen Lyrik auf Popa oft vernachlässigt werde. Dor nennt namentlich Rilke, Trakl, Benn und Lenau. Zwar rilkt und trakelt es bei Popa nicht, doch mag der späte Rilke als Dichter der Sonette an Orpheus entfernt Pate gestanden haben für Popas großen Liebeszyklus. „Weit in uns“ ist die berührende Geschichte einer Begegnung, ihrer Ängste und ihres Jubels, ihrer Annäherungen und Fremdheiten, ihrer Erklärungen und ihres Schweigens, ihrer Trennungen und ihres verwunderten Wiederfindens. Eben noch hatte er in der grausamen Welt-Wüste die Nichtigkeit des menschlichen Daseins vermessen, sparsam im Ausdruck, mit kargen Bildern, unheimlich präzis – und plötzlich „ziehen die Straßenlaternen / ihre blutigen Kleider aus“, „die Wangen der Häuser glänzen / wenn wir vorbeigehen“, und „die Höfe treten aus den Toren heraus / und sehen uns lange nach“.
Freilich, das absurde Unterfutter ist stets präsent: Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen, und erst recht nicht die Verhältnisse unter den Menschen. Um so erstaunlicher, daß trotz aller Skepsis, Ängste und Trennungen der Zyklus happy-endet. Erstaunlich auch, daß diese exklusive Lyrik in jenen Jahren verfaßt wurde, als sich die Doktrin des sozialistischen Realismus gegen jegliche Privatheit wandte.
Eine Reihe von Gedichten und Zyklen weisen Popa als politischen Dichter aus, freilich als einen, der sich gegen jede Heroisierung und Mythenbildung stellt. So sträubt sich das nüchterne, „friedensbringende Lied“ dagegen, daß es von Kriegern „auf der trunkenen Wolke des Ruhms“ gesungen wird. 25 Jahre später bewundert er zwar den Kämpfer im aufständischen Bukarest, der sich in eine Trikolore gekleidet hat, Symbol der Freiheit, aber über seine Bewunderung stellt er am Ende den Wunsch, daß dieser „sein Sohn“ am Leben bleiben möge.
Schon in den frühen Gedichten wird Popas Beschäftigung mit dem Volksmund erkennbar. Neben seinem lyrischen Werk bringt er Sammlungen serbischer Sprüche und Volksweisheiten heraus, worin er Zusammenhänge zwischen Surrealismus und Volkspoesie aufzeigt; er bringt Anthologien über den jugoslawischen „schwarzen Humor“ und über dichterische Traum- und Phantasiegebilde heraus – Rohmaterialien des eigenen Schaffens. Der angesehene Essayist Zoran Mischić faßt Popas Poetik zusammen: „Vasko Popas Lyrik hat die Epoche einer fruchtbaren Synthese aus Heutigem und Traditionellem, aus kosmopolitischem Geist und nationaler Inspiration eröffnet. Der französische Surrealismus und die serbische Volksdichtung, der Exorzismus eines Henri Michaux und die Zaubersprüche, Verwünschungen und Rätsel, die in Urzeiten auf unserem Boden entstanden sind, scheinen in der dichten, elliptischen Sprache Vasko Popas seit jeher miteinander vermählt zu sein.“ Über einen Dichter, dessen wenige und schmale Lyrikbände hohe Auflagen erzielten, der in viele Sprachen übersetzt wurde, konnte auch die offizielle Literaturkritik nicht hinwegsehen. Popa wird zwar häufig als „umstrittene Persönlichkeit“ vermerkt, dessen Verdienste jedoch nicht wegzudenken sind. Eine jugoslawische Literaturgeschichte aus dem Jahre 1977 hat dafür das entsprechende Raster gefunden: Popa hat „eine der größten Leistungen der reflexiven, aber auch der patriotischen serbischen Lyrik geschaffen“.
Popa war, wie der Zyklus „Inschriften auf dem Haus mitten auf der Straße“ zeigt, ein heimatliebender Mensch. Zwar hat er sein Serbentum zum lyrischen Thema gemacht, vom serbischen Geschichtsmythos und dem darin wurzelnden großserbischen Chauvinismus hat er sich jedoch nie vereinnahmen lassen. Auf dem Weg durch „Die kleine Schachtel / die in ihrer Leere die ganze Welt hält“, hat er uns zu Orten seiner Heimatwelt geführt, hat uns Werschetz, seinen Geburtsort, Novi Sad und die Belgrader Bibliothek als Orte der Ruhe, des Nachdenkes angeboten. Und doch waren es bloß Reservate: „Das Unmögliche dauert“, es dauerte unter vielen Masken. Der Dichter, der uns ein „Zelt aus Handflächen“ aufschlagen wollte, ahnt nach der Annexion Kosovos und der Woiwodina den kommenden Schnitt. Sein letztes Gedicht (siehe Kasten), kurz vor seinem Tod 1990 verfaßt, trennt die Epoche eines relativ friedlichen Jugoslawien jäh von der bedrohlich nahenden, der jetzigen ab.
Popa, der sonst immer im Präsens schrieb, verwendete in diesem Gedicht das Futur: Aber inzwischen ist die Zukunft Gegenwart geworden, und die Gegenwart Vergangenheit.
Vasko Popa: „Die kleine Schachtel. Gedichte.“ Aus dem Serbischen von Milo Dor, Wieser-Verlag, Klagenfurt/Celovec 1993, 146 Seiten, DM 29,80
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