Der Weg, der Ort, der Schluß

■ Ein Spaziergang durch eion Gemäuer auf der anderen Seite der Stadt

Eins: Der Weg

Rätselhaftes auf der anderen Seite der Stadt — eine besondere Welt, durch die katakombischen Gänge des Alten Elbtunnels zu erreichen.

Den Kiez verlassen und abgesenkt werden im Tragekorb: „Den Anweisungen des Personals ist Folge zu leisten“; die deutsche Bürokratie macht auch vor der Unterwelt nicht halt. Allein im blankgekachelten Tunnel; unter den Wassermassen hallt der eigene Schritt dumpf.

Wiederauftauchen vor dem Werkstor von Blohm & Voss. Die Stadt am anderen Ufer scheint zum Greifen nah, das Gefühl zu ihr jedoch ist plötzlich sehr distanziert. Im Hafen läuft die Zeit anders. Ein Gefühl von Weite macht sich breit, wie man es sonst in Hamburg nicht spürt.

Umherstreifen zwischen hochgereckten Kränen und modernen Anlagen, vorbei an Schuten und Ölschiffen, die in Seitenarmen der Elbe dümpeln. „Betreten der Kaianlagen verboten“, „Gefahrenbereich“, „Vorsicht an der Helgenkante“, „No Smoking“ — überall lauert die Gefahr, heizt die Phantasie an.

Welche Gestalten sich hier wohl des Nachts treffen und heiße Ware verschieben? Oder spirituelle Séancen abhalten, vielleicht Blut-orgien feiern?

Das Verbotene im Hafen ist das, was neugierig macht.

Zwei: Der Ort

Es gibt so viel Verborgenes zu entdecken; der Weg führt zu verlassenen Gebäuden. Gardinen flattern nach draußen durch zerbrochene Fenster, Kamille und Schafgarbe wuchern, wo Risse den bröckeligen Beton durchziehen. An der Seite ein verwittertes Schild: „Ausbildungszentrum“.

Wer wurde hier mal ausgebildet, und wie lange mag das schon her sein?

Vorsichtige Schritte durch die Hallen, in denen Ausgedientes und Übriggebliebenes verrottet. Verstaubte Maschinenteile, umgekippte Tische und Bänke. Was ist aus dem Mann auf dem Poster geworden, der damals so konzentriert an der Maschine arbeitete?

Geräusche: Tauben flattern durch die leeren Hallen, markieren mit Kotspuren ihren Besitzanspruch. Ein Kadaver in einer Ecke, seltsam verwest: Die Halsfedern gesträubt, als hätte sich der verendende Vogel gegen den Tod gewehrt.

Vergessene Aktenordner, verblichene, längst ungültige Fahrpläne, auch die nackte Frau fehlt nicht; Spinde stehen noch immer in Reih und Glied, sogar die Klobürste behielt ihren Platz in der Herrentoilette. Die Männerwelt von damals scheint durch die schiffsindustrielle Nostalgie.

Warum wurde diese Welt so fluchtartig verlassen, haben die Männer nur das Nötigste zusammengerafft? Die Antwort vielleicht am Werkszaun: „Nicht betreten, Asbestfeinstaub“.

Drei: Der Schluß

Später: ein Anruf bei der Werft. Auch dort scheint sich für die 1920 gebauten Hallen niemand mehr zu interessieren. Das Gelände der ehemaligen Stülken-Werft wurde 1969 von Blohm & Voss übernommen und bis 1992 als Ausbildungszentrum genutzt. Ungefähr 2500 Lehrlinge müssen in dieser Zeit dort duchgeschleust worden sein: Industriemechaniker, Schiffbauer, Technische Zeichner, Anlagenmechaniker.

An wen ist das Gelände heute verpachtet? Gehört es noch zu Blohm & Voss? Wer hat die Sanierung beauftragt, was soll weiter damit passieren? Nicht herauszufinden.

Blohm & Voss und das Amt für Hafen schieben die Zuständigkeit jeweils auf den anderen, der Sachbearbeiter der Asbestsanierungsfirma ist nicht zu sprechen. Eine Mauer des Schweigens, des Desinteresses?

Die Phantasie wird von der Realität überholt: Ist die Wirklichkeit noch undurchsichtiger als die Imagination?

Ernüchtertes Ende eines romantischen Ausflugs.