: Marsmensch auf Rädern
80. Tour de France: Miguel Induráin überstand die letzte Pyrenäen-Etappe ohne Probleme und steht vor seinem dritten Tour-Sieg ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Kein Zweifel, die 80. Tour de France ist eine der langweiligsten in der Geschichte dieser bedeutendsten Rad-Rundfahrt der Welt. Um der Übermacht des Spaniers Miguel Induráin entgegenzuwirken, hatten die Veranstalter diesmal so viele Berge wie selten zuvor in den Kurs gepackt, zwanzig Pässe waren zu überwinden, fünf schwere Bergankünfte standen auf dem Programm. Doch als die Tour-Karawane nach Überwindung sämtlicher Gebirgsriesen in Pau am Fuße der Pyrenäen ankam, stellte sich heraus, daß sie genausogut die ganze Zeit in der Normandie hätte im Kreis fahren können. Brav strampelten die Verfolger im Schlepptau von Induráin über die Pässe, lediglich der Schweizer Rominger und der Italiener Chiappucci fielen gelegentlich aus der Rolle und versuchten kleine Attacken. Doch die Hierarchie, die das Zeitfahren der 10. Etappe am Lac de Madine hergestellt hatte, blieb im wesentlichen bestehen.
Nun hat es auch früher durchaus Frankreich-Rundfahrten gegeben, die wegen der eklatanten Übermacht eines Fahrers wie Fausto Coppi, Eddy Merckx, Jacques Anquetil oder Bernard Hinault früh entschieden und dementsprechend öde waren. Doch gerade die Veteranen insistieren darauf, daß es diesmal anders ist. Sie beklagen den mangelnden Kampfgeist der hochbezahlten Profis von heute, die sich mit vorderen Plazierungen zufrieden geben, widerspruchslos die Direktiven ihrer Teamchefs umsetzen – denen einfach das Herz fehlt. „Wenn ich Zweiter werden sollte“, sagt beispielsweise der Kolumbianer Alvaro Mejía, „dann werde ich später meinen Enkeln erzählen, daß ich die Tour gewonnen habe. Denn Induráin fährt außer Konkurrenz.“
Genau diese Haltung ist es, die den Spanier so unangreifbar erscheinen läßt. Jeder glaubt, daß er eh nicht zu schlagen ist und versucht es darum gar nicht erst. Leute wie Mejía und der Pole Zenon Jaskula, die dem Gelben Trikot am dichtesten auf den Fersen sind, begnügen sich damit, in seinem Windschatten ihre Plätze zu verteidigen, anstatt selbst den Sieg zu suchen, dabei allerdings das Risiko einzugehen, schlappzumachen und abzurutschen, wie es Gianni Bugno und Claudio Chiappucci in den Alpen geschah.
Doch nicht nur die Alten, für die früher ohnehin alles besser war, klagen über die grassierende Passivität, auch Tony Rominger und Claudio Chiappucci sind sauer. Nur die konzertierte Aktion aller großen Rivalen könnte Induráin zu Fall bringen, hatten sie von vornherein gepredigt. Schließlich müsse der Spanier auf jede Attacke eines möglichen Konkurrenten um den Gesamtsieg reagieren und könne so langsam zermürbt werden. Doch sie fanden keine Verbündeten. Jeder hatte Angst, durch eigene Aktivitäten möglicherweise einen Konkurrenten zu begünstigen und selber mit leeren Händen dazustehen. Bereits auf den Flachetappen hatte Induráin ein ruhiges Leben und in den Bergen fand er mehr Helfer als Gegner und konnte „mit hochgelegten Beinen schlafen“ (Fignon).
Ob tatsächlich viele Hunde des Hasen Tod gewesen wären, ist allerdings mehr als fraglich. Mühelos schien Induráin am Berg jedes Tempo mitgehen zu können, aber niemand weiß, wie nahe er manchmal an seine physischen Grenzen gehen mußte. „Auch er hat einen schwachen Punkt“, sagt Fignon, „aber niemand war in der Lage, ihn zu finden.“ Chiappucci mag dem Franzosen nicht recht folgen: „Fast jeder hat einen schlechten Tag im Gebirge. Miguel nicht. Ich wollte, ich wäre auch ein Marsmensch wie er. Aber ich bin normal.“
Die Übermacht des 29jährigen paralysiert die Konkurrenz und mobilisiert die Kritiker, die sich über Induráins kalkulierte, emotionslose Fahrweise mokieren. Wenn schon die anderen Fahrer nichts tun, um die Sache interessant zu machen, solle wenigstens der Spitzenreiter sein Scherflein zum Spektakel beitragen. Aber der denkt nicht daran: „Ich bin kein Merckx oder Hinault. Ich kann nicht wie sie angreifen. Ich arbeite mit meinen Mitteln. Schließlich muß ich 80 Kilo auf den Berg hinaufschleppen.“ Umgerechnet in Kilometer heißt dieser gewichtsbedingt höhere Kraftaufwand, das Induráin bei der Tour 1992 27 Kilometer mehr zurücklegte als Chiappucci, wie El País berechnete.
Auf der 17. Etappe von Tarbes nach Pau fühlte sich der zweimalige Tour-Gewinner so sicher, daß er nicht nur Chiappucci ziehen ließ, sondern zum erstenmal auch Rominger. 50 Sekunden Vorsprung fuhr der Schweizer am Tourmalet heraus, doch bei der Abfahrt war Induráin plötzlich wieder hinter ihm. Mehr Erfolg hatte Chiappuccis Angriff am Aubisque. Mit Jon Unzaga und Massimo Ghirotto setzte sich der kleine Italiener ab, gewann den Zielspurt und konnte sich mit diesem Etappensieg wenigstens notdürftig über die verkorkste Tour hinwegtrösten. „Nach dem, was in den Alpen passiert ist“, sagte er, „wollte ich sehen, ob noch etwas in mir steckt.“
Doch zwei Kämpfer waren zuwenig, um Induráin zu gefährden. Heute beim Zeitfahren der 19. Etappe wird er seinen Vorsprung vermutlich noch vergrößern, morgen dann, wenn ihm kein Unglück widerfährt, zum drittenmal als Triumphator auf die Champs-Elysées einbiegen. Bereits vorher zog Javier Mínguez, Teamchef von Amaya, das schlichte Fazit der Tour de France 1993: „Induráin war allen in allen Belangen überlegen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen