: Wunschmaschinen stehen still
■ „Tokio Dekadenz“, ein S/M-Drama von Ryu Murakami
Über dem Tokioter Lichtermeer, im Fenster eines Hotelhochhauses, steht eine Frau stundenlang und läßt die Hüften kreisen. Filmt die Kamera sie aus dem Hotelzimmer, sieht man die Strapse und den kokainpaffenden Kunden, aus der Ferne sieht sie aus wie ein Märtyrer, eine Gekreuzigte, fast schon eine Statue. „Tokio Dekadenz“ erzählt von einer Prostituierten für kompliziertere Aufträge, Ai, 22 Jahre, die Tokios Yuppiewelt bereist und in ihrer stummen Kulleraugenhaftigkeit die ideale Komparsin für Inszenierungen aller Art abgibt. Zu Beginn fürchtet man kurz, eine „Geschichte der O.“ vor sich zu haben, aber Ai ist nicht neugierig. Sie ist überhaupt nicht viel mehr als dieser etwas dümmlich-erstaunte Gesichtsausdruck. Es geht hier nämlich glücklicherweise nicht um eine éducation sentimentale, sondern um S/M als Mikrokosmos im Tokioter Großstadtdschungel, wo es angeblich zum Pausenvergnügen gehört, sich einer Venus im Pelz zu unterwerfen.
Wer gehofft hat, hier ginge es um Sex, sieht sich getäuscht. Das Genialste an diesem Film sind vielleicht seine Schnitte und Zäsuren: Die erste Stunde besteht aus aneinandergereihten Tableaus – Ai an einen gynäkologischen Stuhl gefesselt, der Kunde gibt ihr eine Spritze; Ai auf allen vieren wie ein Hund kriechend mit einem umgeschnallten Vibrator; Ai vor einer Berglandschaft (Fuji-Tapete) mit einem Freier, der sie strangulieren möchte wie einst die Volksheldin Umeko Yoshida – und alle diese Szenarien werden abgebrochen, bevor ein erzählerischer oder sexueller Höhepunkt erreicht ist. Man sieht, wie die masochistische Theateraufführung die Welt verschwinden läßt; Kostüme, Rituale, Rollen, Verträge, eigene Gesetze, exakt abgesprochene Wortwahl und Terminierung, Exposition, Entwicklung, Klimax – das Leben wird zum Kunstwerk und irgendwann zur bloßen Idee. Das Statueske, der inszenierte Gefrierpunkt, sorgen perfekt für das Ende von Sinnlichkeit; alle Wunschmaschinen stehen still. Einer von Ais Kunden läßt sich strangulieren, sie und ihre Kollegin halten ihn für tot und wollen schon fliehen, als er, wie ein Zombie, zu neuem Leben erwacht. Jetzt will er vögeln.
Natürlich eignet sich keine Stadt so sehr für diese Ultrafrost-Ästhetik wie Tokio, denkt sich jedenfalls der gewärmte Europäer. Murakamis Stadt ist, so sie überhaupt zwischen den Hotelzimmern auftaucht, ein Labyrinth aus eisglatten Fassaden, stets künstlichem bläulichem Licht, Kaufrausch-Arkaden und Rolltreppen.
Die Kühle der Inszenierung löst sich dann aber – und da kippt dieser elegante Blue Movie plötzlich ab – langsam in eine Art Madame Butterfly-Stoff auf. Im Fernsehen sieht Ai den Mann, den sie wirklich liebt; er ist ein Schriftsteller-Genie und tragisch unerreichbar, irgendwie eher in Europa als in Japan, wo der Reichtum „den Männern die Würde geraubt hat.“ (Glaubt der Regisseur, ein silbergrauer Mercedes aus dem Land der Dichter und Denker, womöglich mit einem Stuttgarter Unternehmerchen drin, ist würdevoller?) Im Rausch läuft Ai, von Verdi-Klängen begleitet, durch Scherben in die Vorstadt zu seinem Haus.
Man fühlt sich plötzlich unsanft in die Romantik des 19. Jahrhunderts zurückversetzt, eine modrige Sehnsucht nach prämodernen Lebenswelten weht einen an. Passend dazu zitiert das Presseheft Baudrillards Gegreine, wir lebten in einer Zeit „nach der Orgie“, seien über alle Stränge schon einmal geschlagen und wüßten jetzt nicht mehr, wohin mit unserer Dekadenz. Naivste, märchenhafte Lösungen schimmern auf. Eine Kollegin verabreicht Ai die Pille, die sie zur Super-Woman, zum Übermenschen machen soll. Wie die überblähte Kreditwirtschaft die Dame Japan bringt aber diese Superpille Ai nur zu Fall, als sie mit ihrem Körbchen voll Wein, Obst und Gebäck halluzinierend durch eine Villenlandschaft zieht. An solchem Ende wird man den Verdacht nicht los, das Japan eines Filmemachers gesehen zu haben, der die westlichen Klischees des Ostens eher kennt als dessen widersprüchliche Moderne. Mariam Niroumand
„Tokio Dekadence“. Regie: Ryu Murukami. Kamera: Tadash Aoki. Mit: Miho Nikaido, Sayoko Amano. Japan 1992, 85 Min.
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