: Mutter des getöteten Säuglings kann auf Milde hoffen
■ Anwältin wird entgegen bisheriger Rechtsprechung auf Kindestötung plädieren
Auf Kindestötung in einem minder schweren Fall wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Rechtsanwältin Ulrike Kolneder-Zecher für ihre Mandantin Raphaela F. plädieren. Diese hatte nach eigener Aussage ihre knapp 20 Stunden alte Tochter lebend vergraben und dabei getötet (die taz berichtete). Eine Verurteilung wegen Kindestötung widerspräche bisheriger Rechtsprechung, nach der Totschlag vorliegt, wenn die Tötung des Neugeborenen nicht während oder unmittelbar nach der Geburt erfolgt. Diese Auslegung müsse neu definiert werden, forderte Kolneder-Zecher gestern gegenüber der taz. Die Auslegung „des Verwaltungsgerichts, das nur von Männern besetzt ist“, habe eine „falsche Vorstellung von Muttergefühlen“. Eine Diskussion um den einschlägigen Pragraphen 217 des StGB werde es auf jeden Fall geben, da sie in Revision gehen werde, falls ihre Mandantin wegen Totschlags verurteilt wird. Danach sah es am gestrigen zweiten Verhandlungstag jedoch nicht aus, denn der vorsitzende Richter sagte bei Sitzungsende, daß Paragraph 217 angewandt werden könne.
Vor allem für das Strafmaß ist diese Frage entscheidend: Während die Mindeststrafe bei Totschlag fünf Jahre beträgt, liegt sie bei Kindestötung bei drei Jahren, und: „In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“ Auf diesen zweiten Absatz arbeitete Kolneder-Zecher bei der Zeugenvernehmung vor der 31. Großen Strafkammer hin. Befragt wurden neben einigen Polizisten, die kurz nach dem Geständnis mit der Angeklagten gesprochen hatten, auch die 17jährige Schwester, die Angehörige eines Kirchenkreises und der ehemalige Partner der Angeklagten sowie die gerichtsmedizinische und die psychiatrische Gutachterin.
Der ehemalige Partner Kurt P. verstärkte den Eindruck des ersten Prozeßtages, daß Raphaela F. die Schwangerschaft weitgehend geheimhalten konnte, da ihr soziales Umfeld desinteressiert war. Er habe eine Schwangerschaft vermutet, aber nicht nachgefragt, so der alkoholisierte Zeuge. Die jüngere Schwester bestätigte die Angaben der 29jährigen, daß die Mutter alle vier Töchter häufig geschlagen habe. Auch die Psychiaterin und Neurologin Anneliese Ermer kam aufgrund von Gesprächen mit der Angeklagten und ihren Verwandten zu dem Schluß, daß die Kindheit von Raphaela F. „extrem gefühlsarm“ war: „Die Mutter hat selbst auffällig wenig Zugang zu ihrer eigenen Emotionalität.“ Die Angeklagte sei kontaktarm aufgewachsen, heute sei Nähe für sie mit „Angst vor Verlust der eigenen Identität“ verbunden.
Nach Einschätzung der Züricher Gutachterin ist Raphaela F. „intellektuell minderbemittelt, leicht geistig behindert“, und sie weise „Defizite im praktischen Urteilsvermögen“ auf. Da sich die Alleinerziehende bei der Geburt nach einer geheimgehaltenen Schwangerschaft in einem „erheblichen Überforderungszustand“ befunden habe, sei ihre Schuldfähigkeit eingeschränkt, folgerte Ermer. Ausdrücklich bestätigte die Ärztin, daß die Tat auf die „schwangerschaftsbedingte Erregung“ zurückgeführt werden könne. Unklar blieb am zweiten Verhandlungstag, ob Raphaela F. ihre Tochter bereits am Tag der Geburt mit einem Kissen erstickt und erst am nächsten Morgen vergraben hat, wie sie zuerst angegeben hatte. Christian Arns
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