: „Willkommen im Niemandsland“
Die slowakischen Bewohner der tschechischen Gemeinde U Sabutu überqueren mindestens viermal täglich die tschecho-slowakische Grenze / Nun wollen sie ihr Dorf der Slowakei anschließen ■ Von Tomas Niederberghaus
Bürgermeister Jiří Pšurný ist in diesen Wochen um einige Jahre älter geworden. Denn in dem einst so ruhigen tschechischen Grenzort Velké nad Veličkou scheint es mit der Ruhe vorläufig vorbei zu sein. Und dabei ist die „Abfallfrage“ – die Katholiken werfen den Müll vom eigenen Friedhof auf die anderer Glaubensgemeinschaften – noch das geringste Problem. Dazu hat Pšurný ein Gemeinderundschreiben verfaßt, das er nun eigenhändig in der „Jagosova“, der einzigen Gastwirtschaft des Ortes, verteilt.
Viel gravierender sind die „Sezessionsbestrebungen“ von U Sabutu. Der kleine Teilort gehört zu Javorník und diese Gemeinde ist wiederum dem Grenzort Velké nad Veličkou unterstellt. Nun will er sich der Slowakei anschließen.
In der „Jagosová“ sitzen Bürgerinnen und Bürger in Kittelschürzen und „Blaumännern“. Mit Bier und Slibowitz wird an diesem Freitag mittag das Wochenende eingeläutet. „Ah, der Herr Bürgermeister“, ruft eine alte Frau vom Ecktisch und zupft dabei ihr Kopftuch zurecht. „Gibt's was Neues?“ Das Interesse ist groß.
In den Weißen Kaparten, etwa 300 Kilometer südöstlich von Prag, wird die Grenzdiskussion inzwischen auf ziemlich emotionaler Ebene ausgetragen. „Wem es hier nicht paßt, der kann seine paar Pflaumen packen und zu Mečiar abziehen“, erklärte Martin Kružica, der Bürgermeister von Javorník gegenüber der Lokalzeitung. „Aber Bahnhof und Häuser bleiben hier.“
Seit dieser prekären Äußerung hüllt sich Kružica allerdings in Schweigen: Kein Wort mehr gegenüber der Presse. Und schon gar nicht gegenüber den abtrünnigen Bürgern.
Letztere sind froh, daß sie von ihren Alltagssorgen erzählen dürfen. „Willkommen im Niemandsland“, begrüßt uns zynisch Stefka Pavel, Bewohner von U Sabutu. „Ziehen Sie diese Pantoffeln an und gehen Sie mit.“ Stolz führt uns der 58jährige Busfahrer durchs Haus. Ein paar Fotos hängen an der Blümchentapete. „Vor 28 Jahren haben wir hier gebaut“, sagt Pavel, „hätte ich damals gewußt, daß ich mal soviel Ärger bekomme, keinen Finger hätte ich krumm gemacht.“
Wie den Pavels geht es fast allen Bürgern U Sabutus. Sie sind Slowaken. Sämtliche sozialen Kontakte haben sie im nur wenige Maisfelder entfernten, doch in der Slowakischen Republik gelegenen Vrbovce. Der Ort wäre ein sinnvoller Amtssitz für U Sabutu. Aber die neue Grenze bringt seit einigen Monaten mehr Durcheinander als Miteinander.
„Es ist doch absurd, wenn die ganze Gemeinde zur Arbeit ins Ausland reisen muß“, schimpft Pavel. Ehefrau Anna knüllt nervös ihr Taschentuch in der Hand und nickt. Man kann sich denken, welche Probleme das mit sich bringt: Ausgezahlt werden die Bürger – sie arbeiten hauptsächlich in einer Fabrik – in slowakischen Kronen. Die werden im einzigen Lebensmittelgeschäft von U Sabutu zwar angenommen, allerdings zu einem schlechten Kurs.
Deshalb wird der Tante-Emma- Laden inzwischen von vielen boykottiert. Dorfgerüchten zufolge soll er bald schließen. Die Regale sind erstaunlich leer, viele Produkte haben das Verfallsdatum überschritten.
Wer einkaufen will, tauscht seine slowakischen Kronen entweder im zehn Kilometer entfernten Velké nad Velickou und sucht dort einen Laden auf oder kauft nach der Arbeit noch in der Slowakei ein. Wer mit dem Auto die Grenze passiert, wird stets gestoppt. „Jedesmal müssen wir unseren Kofferraum aufmachen. Dann kontrollieren sie, ob wir etwas zu verzollen haben“, sagt Pavel.
Nicht nur das: Selbst bei abendlichen Stippvisiten zu Verwandten in der Slowakei müsse man den Paß zücken. Pavel sagt: „Reine Schikane.“
Und doch sind diese Grenzkontrollen, von denen Tschechen und Slowaken gemäß den Versprechungen der Politiker eigentlich verschont bleiben sollten, nicht das größte Problem. Kinder beispielsweise werden im slowakischen Myjava zur Welt gebracht. Dort ist das nächstgelegene Hospital. Seit 1968 – so sagt es das Gesetz – bekommen Neugeborene automatisch die Staatsangehörigkeit nach dem Geburtsort. U Sabutus Gemeindenachwuchs ist also slowakisch und wächst in der Tschechischen Republik auf.
Die Grundschule besuchen die Kinder in Vbrovce. „Dort lernen sie Slowakisch“, sagt eine aufgebrachte Mutter, „die nächste weiterführende Schule ist dann wieder in der Tschechischen Republik.“ Es wundert nicht, daß vor allem Eltern schulpflichtiger Kinder die Petition für die Abspaltung U Sabutus unterzeichnet haben.
Die Kunde von unserem Besuch zieht wie ein Lauffeuer durch die 37 Häuser U Sabutus. Und so sitzen schon nach kurzer Zeit zahlreiche slowakische „Separatisten“ in der guten Stube der Pavels. Frau Anna holt selbstgebrannten Slibowitz. Eine Art konzertierte Aktion beginnt. „Die ganze Sache ist wie ein böser Traum“, sagt der 66jährige Rentner Jan Blažek, „aber zunächst einmal ,na zdravĺ‘.“ Die Gläser klingen.
„Das Sie's richtig verstehen“, fährt Blažek fort, „es geht hier nicht um eine Nationalitätenfrage, sondern ums tägliche Überleben.“ Er beispielsweise bekomme 2.000 slowakische Kronen Rente aus Bratislava. Verrechnet werde über Prag. Letztendlich blieben 1.800 tschechische Kronen (etwa 100 Mark) übrig. Und: „Um in U Sabutu versichert zu sein, zahle ich 300 Kronen Krankenversicherung.“
Seine Frau ist den Tränen nahe. „Selbst den Strom bekommen wir aus der Slowakei“, murmelt sie leise vor sich hin, „wenn's mit dem Ärger schlimmer wird, kappen sie uns bestimmt die Leitung.“
Ihre Probleme mit der Grenze, die nun gerade sieben Monate alt ist, haben aber auch die Einwohner des slowakischen Ortes Vbrovce: Jeden Morgen fahren etwa 250 Personen mit dem Bus zum Bahnhof nach U Sabutu. Von dort aus nehmen sie den Zug zu ihrer Arbeitsstätte, die wiederum in der Slowakei ist.
Viermal überqueren sie täglich die Grenze. Und obwohl über diesen „Unsinn“ auf der Fahrt zur Arbeit immer wieder heftig diskutiert wird, kann man sich abends am Stammtisch immer noch amüsieren: Wer verkauft denn nun endlich Spezialportemonais, in denen Geld und Bahnkarten sauber nach Nationalität getrennt werden können?
Die slowakischen Gemeindevertreter in Vbrovce finden das hingegen gar nicht so lustig. Auch sie haben die Petition unterschrieben und fordern, daß die Grenze weiter nördlich, also hinter dem Bahnhof gezogen wird. Ohnehin prangt an der Station noch der Name „Vbrovce“.
Um möglichen Änderungen der Grenzkommission vorzubeugen, hat Javorníks Bürgermeister einen Brief ans tschechische Verkehrsministerium geschrieben, mit der Bitte, einen kleinen Namenswechsel vornehmen zu dürfen. Aus Prag kam nun grünes Licht: Der Bahnhof darf „Javorník“ heißen.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“, da ist sich Pavel ganz sicher. Er zieht die Lokalzeitung aus dem Holzständer. Darin ist zu lesen, daß die Grenzkommission beim ersten Lokaltermin in U Sabutu die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat. Ob des Tohuwabohus empfahl sie den Gemeinden, die Sache erst einmal selbst zu besprechen. Doch hie wie dort stellt man sich bockig. Wie gereizt die Stimmung ist, zeigt sich auch darin: Beim Fototermin am Bahnhof kommt der tschechische Oberamtmann uns mit erhobener Faust entgegengelaufen: „Kein Foto!“
Die Bürger von Vbrovce sind der Ansicht, daß der Bahnhof schon immer ihr Eigen gewesen ist – alte Karten sollen dies beweisen. Die tschechischen Gemeinden halten dagegen an der Grenze von 1829 fest. Danach sei die Demarkationslinie der kleine Bach, der zwischen den vor Monaten aufgestellten, tschechischen und slowakischen Zollcontainern fließt. Im übrigen habe der 1927 erbaute Bahnhof zur Zeit des Protektorates – im Jahre 1939 – schon einmal Javorník geheißen.
Mit Spannung und Sorge zugleich sehen die Grenzanwohner dem Augenblick entgegen, an dem die Grenzkommission eine endgültige Entscheidung trifft. Entscheidet sich das slowakisch-tschechische Gremium für die tschechische Variante, sehen die Bewohner in U Sabutu weitere Schwierigkeiten auf sich zukommen. „Im Herbst sollen in der slowakischen Fabrik 400 Leute gekündigt werden. Als Grenzgänger sind wir die ersten, die gehen müssen“, erklärt ein junger Mann. So oder so sei die Situation nicht tragbar: entweder müsse die Krankenversicherung zweimal gezahlt werden, oder man müsse sich um eine neue Stelle auf tschechischer Seite bemühen.
Plötzlich nimmt die Diskussion eine ungeahnte Wende: „Ihr Deutschen müßtet doch ganz gut wissen, wem wir das hier letztendlich zu verdanken haben, ihr wolltet keine starke Tschechoslowakei“, sagt eine Frau mit vorwurfsvollem Blick. Ihr Ehemann beschwichtigt mit einem wohlwollenden „Prost“.
Auf der tschechischen Seite ist die Arbeitssituation zur Zeit nicht besser. Dort ist die Textilfirma „Kordarna“ einer der wichtigsten Arbeitgeber. Doch 80 Arbeiter aus U Sabutu könnte sie keinesfalls auffangen. „Dennoch“, so Jiří Pšurný, „ist es wichtiger, die wirtschaftlichen Probleme der Menschen zu lösen, als die Grenze umzulegen.“ Er bangt vor einem Entscheid der Grenzkommission zugunsten der Slowaken. Dann nämlich würden 120 Hektar Land, Grundsteuer und ein paar Investitionen flöten gehen.
Während sich Prag und Bratislava schon über das Design der neuen Grenzsteine geeinigt haben, sind die Probleme in den Weißen Karpaten noch grundsätzlicher Natur. In der Gaststätte „Jagosová“ fordert Jiřó Pšurný die Dorfbevölkerung auf: Bitte prüfen Sie, ob Sie die tschechische oder slowakische Staatsangehörigkeit besitzen. Änderungswünsche werden bis Ende des Jahres berücksichtigt.
Die alte Frau schüttelt den Kopf. „Früher konnte ich über die Grenze springen“, sagt sie, „heute bauen sie Dämme statt Brücken.“ Und fast schon erleichtert stellt sie fest: „Da ist das Müllproblem auf dem Friedhof sicherlich am schnellsten gelöst.“
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