Erneut Bedenkliches

„Kassandra war einäugig“, teilt uns die Süddeutsche Zeitung in ihrer Wochenendbeilage mit: Deutsche Intellektuelle, „ob sie Brecht hießen oder Tucholsky oder Heinrich Mann“, verkannten Hitler, verharmlosten ihn. Wir blättern um und stellen fest: Kassandra ist, was ihr aktuelles Auftreten betrifft, nunmehr auf beiden Augen blind. „Jeden Samstag Endspiel“ ist ein Artikel überschrieben, zu dem es heißt: „Vor dreißig Jahren begann die Fußball-Bundesliga“, und direkt darunter findet sich: „Vor 50 Jahren: Aufstand im Vernichtungslager Treblinka“.

Ja, die deutschen Jahrestage: immer mal wieder ein Endspiel. War da nun die rhetorische Sinnvernichtung qua Positivismus am Werke, oder hat ein einzelner Kopf in kluger Dialektik dafür gesorgt, daß sich zusammenfügt, was doch zusammengehört? Letzteres kann vermuten, wer auf die Titelseite zurückblättert und dort, neben den Jahrestagen Bundesliga und Treblinka, auch auf Martin Walser stößt: „Ein Mord, den jeder begeht“ lautet sein von der Redaktion gesetztes Thema. In einer kleinen Einführung in die formalsemantischen Probleme der Modallogik, die der Geschichte vorsteht, heißt es, daß „die Lebensnähe, der sich Literatur verdankt, auch die Möglichkeit mit einschließt, einen Gedanken, ein bloßes Wollen und Verlangen, zur fiktionalen Wirklichkeit, zur Tat werden zu lassen“.

So fragen wir uns: Ist der Mord, den jeder begeht, ein Gedanke, der das bloße Wollen zum samstäglichen Endspiel in Treblinka Wirklichkeit werden läßt? Oder ist der Fußball das Verlangen, den Mord in Treblinka samstäglich endzuspielen, die Wirklichkeit aber auch fiktional werden zu lassen? Ist, „Hand aufs Herz“, „diese menschlich- allzumenschliche Erfahrung“, welche „diesen Reigen eröffnet“, die bayrische Formulierung der Einsicht, daß Buchenwald und Weimar derselben Kultur angehören? Oder kommen wir, wenn wir 50 mal 30 durch 1993 multiplizieren, nicht doch zum Schlußwort der Geschichte, welche „Dieser Mensch“ überschrieben ist und „Ecce homo.“ endet?

Die Modallogiker an der Princeton University arbeiten schon lange an dem Problem, wie der zirkulären (gegenseitigen) Definition der Begriffe Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit zu entkommen sei: das Mögliche gilt von alters her als das weder Notwendige noch Wirkliche; das Notwendige als das Mögliche und Wirkliche; das Wirkliche wiederum ist nicht unmöglich, aber ist es ebenso notwendig? Die fiktionale Wirklichkeit der Süddeutschen Zeitung löst auch dieses Problem der Geistesgeschichte: Auch das Unmögliche kann Wirklichkeit werden, wenn die Notwendigkeit es fiktional will. ES