: Zivilgesellschaft ganz praktisch
■ In Marokko etablieren sich viele Bürgerrechtsvereine / Die Entwicklungshilfe- Organisationen unterstützen sie, doch auch der Staat hat Interesse an ihnen
Rabat (taz) – Marokko hat in den letzten acht Jahren eine spürbare Liberalisierung im soziokulturellen Bereich erlebt. Zahlreiche Frauenrechtsvereine, einige kritische Verlagshäuser, wie „Dar Tobqal“ oder „Editions le fennec“, und eine unabhängige Menschenrechtsorganisation wurden gegründet, außerdem ist die erste Aids-Beratungsstelle in Nordafrika eröffnet worden. Unternehmerinnen haben sich zusammengeschlossen, um stärker öffentlich präsent zu sein. Von Arbeitslosigkeit bedrohte WissenschaftlerInnen versuchen, eigene Forschungsprojekte auf die Beine zu stellen. Und in Casablanca wurde bereits 1985 das erste marokkanische Frauenhaus eröffnet.
Zwar hat sich an den Menschenrechtsverletzungen in Marokko nichts geändert, doch wird immer wieder versucht, die Situation der politischen Gefangenen öffentlich zu diskutieren – natürlich unter Pseudonym. Themen wie Aids, Vergewaltigung, Prostitution etc. werden neuerdings sogar in den Medien behandelt. Das Engagement der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in diesen Bereichen überrascht besonders in einem arabisch-islamischen Land. Über den karitativen Zweck hinaus stellen viele Vereine ihr Engagement explizit in den größeren Zusammenhang von „Zivilgesellschaft und Demokratisierung“: sie wollen Öffentlichkeit schaffen, die allgemeine Bildung fördern und die Bürger ermuntern, ihre Rechte einzufordern. Dies geschieht vor allem in den großen marokkanischen Städten, wie Rabat oder Casablanca.
Die Association Marocaine de Lutte contre le SIDA (ALCS) wurde Anfang 1988 als erste Aids- Beratungsstelle in Nordafrika von der Ärztin Dr. Hakima Himmich in Casablanca gegründet. Ab 1990 konnten nach und nach Regionalbüros in Tanger, Rabat, Agadir, Meknes und Fes eröffnet werden. Als Aids-Aufklärung-Stelle spricht ALCS streng tabuisierte Themen an wie Prostitution und Homosexualität. Sie will Freiraum für eine unabhängige Beratung schaffen. Zwar gibt es auch ein Aufklärungsprogramm der Regierung, aber die ALCS will Betroffene beraten, ohne daß diese dabei juristische und soziale Risiken eingehen. Die Vereinigung arbeitet vor allem mit Dia-Vorträgen, Videoclips und Hörspielen, da die Analphabetenrate in Marokko noch immer 65 Prozent beträgt.
Die Presse hat das Thema „Prostitution“ nach langem Zögern ebenfalls aufgegriffen, und kürzlich sogar das Fernsehen. In der Sendung „L'homme en question“ konnte Frau Dr. Himmich ihr Projekt vorstellen. Zum ersten Mal stand eine Frau öffentlich Rede und Antwort zum Thema Aids. Die Sendung war um so bemerkenswerter, da es in Marokko eine strikte Trennung zwischen Presse- und Fernsehthemen gibt. Das Fernsehen erreicht ja im Unterschied zu den Printmedien auch Millionen von Analphabeten, und darum unterliegen seine Themen einer weitaus strikteren Kontrolle als die der Printmedien. Der Auftritt von Dr. Himmich wurde zwar von der regierungskonformen Presse ignoriert, aber in den oppositionellen Zeitungen wurde er gefeiert. Zum ersten Mal habe sich eine Frau das „Recht“ genommen, 90 Minuten lang über Aids zu sprechen.
Und Frau Dr. Himmich hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Sie kritisierte die Entscheidung des ersten Fernsehprogramms, keine Aids-Aufklärung- Spots zu senden, ebenso wie die Politik des im Studio anwesenden Gesundheitsministers Abderrahim Harrouchi. Soviel öffentliche Unbotmäßigkeit ist neu in Marokko. Ein Pressekommentar fragte denn auch gleich ironisch: „Jetzt sind schon Minister kritisierbar! Wo kommen wir denn da hin?“
In den meisten islamischen Staaten wird Aids noch immer als Problem der westlichen Welt dargestellt. Aufgrund der „hohen moralischen Standards“ könne sich diese „Geißel des Westens“ in islamischen Ländern nicht verbreiten, heißt es oft. Als Allheilmittel wird die strikte Einhaltung religiöser Vorschriften gepriesen, im akuten Notfall wird eine Pilgerfahrt nach Mekka empfohlen.
Die ALCS versteht sich nicht nur als soziale Einrichtung. Sie hat auch erklärte politische Ziele: sie will für eine „Zivilgesellschaft“ kämpfen, lassen Mitarbeiter wissen, an der alle Bürger gleichberechtigt teilhaben können. Ein ähnliches Selbstverständnis haben auch die anderen Selbsthilfevereinigungen, die sich im politisch heiklen Klima Marokkos auch deshalb entwickeln konnten, weil sie die Unterstützung einiger internationaler Organisationen Europas und der USA genießen. Bei der Opposition stößt dieses plötzliche Interesse des Westens an Demokratisierung und Zivilgesellschaft zwar auf große Skepsis, denn am Verhältnis des Westens zu den herrschenden Diktaturen hat sich ja nichts geändert. Aber unabhängig davon wissen die marokkanischen AktivistInnen von der Spendierfreudigkeit der Stiftungen und internationalen Hilfsorganisationen zu profitieren: so geben beispielsweise die Konrad- Adenauer- und die Friedrich- Ebert-Stiftung in Marokko neuerdings Publikationsreihen zur Situation von Frauen im Maghreb heraus – und das freut die Frauengruppen.
Doch auch der marokkanische Staat hat inzwischen sein Interesse an einer Förderung des Vereinswesens entdeckt. Die Unfähigkeit der staatlichen Institutionen, die prekäre wirtschaftliche Lage des Landes in den Griff zu bekommen, hat zu stetigem Legitimitätsverlust der Regierung beigetragen. Da viele der Vereine wichtige soziale Dienstleistungen anbieten, läßt der Staat sie gewähren. Die „zivilgesellschaftlichen“ Projekte mußten allerdings schon eine ganze Reihe Beschränkungen und Rückschläge in Kauf nehmen, denn mit Schließungen bereits genehmigter Vereine oder Initiativen ist jederzeit zu rechnen. So wurde eine ganze Reihe oppositioneller Zeitschriften wieder verboten, unter anderem Kalima, die sich von 1986 bis 1989 mit Themen wie männliche Prostitution, Jungfräulichkeit, Gewalt in der Ehe einen Namen gemacht hatte.
In dem 1985 von drei marokkanischen Sozialarbeiterinnen in Casablanca gegründeten Frauenhaus, das den Namen Solidarité Féminine. trägt, leben derzeit 24 Frauen. Die meisten wurden von ihren Familien verstoßen, weil sie vor der Ehe schwanger wurden oder eine Scheidung hinter sich hatten. Heute betreiben die Frauen zwei Kantinen, die Schülern und Arbeitern ein Mittagessen anbieten. In der Nähe eines großen Krankenhauses haben sie außerdem vier Imbißstände eröffnet, auf denen auch der Namenszug ihrer Organisation prangt. Nachmittags werden Alphabetisierungskurse von einer islamischen Frauengruppe durchgeführt. Die Islamistinnen tauchten zur Überraschung der Frauenhausbetreuerinnen eines Tages auf und boten ihre Hilfe an. Anderen verstoßenen Frauen bleibt auch heute oft nur der Weg in die Prostitution.
Die NGOs haben in Marokko begonnen, eine ganz ähnliche Funktion zu übernehmen wie in anderen arabischen Staaten die Islamisten. Sie bieten soziale Dienstleistungen an, die der Staat viele Jahre völlig vernachlässigt hat, und werden darum vom Staat geduldet. Ihre politische Anziehungskraft beziehen sie unter anderem daraus, daß sie die Bedürfnisse und Notlagen der einzelnen ernst nehmen und praktische Abhilfe schaffen. Damit machen sie den Islamisten in Marokko ein Terrain streitig, das diese in Staaten wie Algerien oder Ägypten seit langem besetzt halten. Sonja Hegasy
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