„Ich habe noch so viel vor“

Gesichter der Großstadt: Seit 30 Jahren ist der nun achtundsiebzigjährige Rainer Hildebrandt Direktor des Hauses am Checkpoint Charlie  ■ Von Kordula Doerfler

Bei zwei Themen packt den Mann die Emphase, kommt die Leidenschaft. Zum einen, wenn er über die Opfer des SED-Regimes, die Opfer des Stalinismus in ganz Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, die Todesfälle an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze spricht und über sein Lebenswerk, das Haus am Checkpoint Charlie. Rainer Hildebrandt, Jahrgang 1914, ist seit 30 Jahren Direktor des im Juni 1963 gegründeten Museums am ehemaligen Grenzübergang für Ausländer, und er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft 13. August. Aufhören, sich zurückziehen, zur Ruhe setzen, das ist unvorstellbar für den 78jährigen. „Es gibt noch so viel zu tun“, sagt er, „ich bin zwar jetzt fast 80, aber ich sage immer, biologisch sei ich 50, auch wenn ich schlecht höre mittlerweile – obwohl mir eine Freundin kürzlich geraten hat, ich soll sagen, ich sei 51.“ Womit das zweite Thema seines Lebens angeschnitten ist, die Frauen. Unendliches Glück habe er gehabt mit den Frauen, immer wieder Frauen getroffen, die ihm geholfen und mehrfach das Leben gerettet hätten.

Wie die Frau, die ihn während eines Bombenangriffs aus dem Luftschutzkeller mitnahm. Oder das „Gestapo-Mädchen“, das ihn 1943 in Eberswalde zumindest eine Nacht vor dem Zugriff eines „Werwolf“-Kommandos schützte. „Lieber Gott, vernichte alle Juden“, betete sie, als er nachts, während erneuter Bombenangriffe, zwischen ihr und ihrer Schwester im Bett lag – nicht ahnend, daß neben ihr ein „Viertelsjud“ (O-Ton Hildebrandt) lag, der eng befreundet war mit Widerstandskämpfern wie Alfred Haushofer und Schulze- Boysen.

Wenn Rainer Hildebrandt von seinem Leben erzählt, sprudelt einem ein schier unerschöpflicher Quell an Anekdoten und Begegnungen entgegen. Immer wieder springt er während des Gesprächs auf, holt Bücher und Unterlagen, springt zwischen den Jahrzehnten hin und her und kommt wieder ganz schnell in die Gegenwart, zu seinem Lebenswerk, dem Haus am Checkpoint Charlie. Aufgewachsen als Sohn einer Malerin und eines Kunsthistorikers, ging er 1936 nach Berlin, um Philosophie und Psychologie zu studieren. Er war Schüler von Eduard Spranger und konnte 1942 promovieren. „Das ging nur, weil es durch einen Trick gelungen war, meine Mutter als ,halbjüdisch‘ einstufen zu lassen. Ich selbst war dann nur noch ein ,Viertelsjud‘ und damit erst einmal außer Gefahr.“

Alfred Haushofer wurde Hildebrandts Freund und Mentor, er übernahm Botengänge für die Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. Politisch bereits verdächtig, wurde er zur Wehrmacht eingezogen und 1943 erstmals für ein Jahr verhaftet. Nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 44 wurde er erneut verhaftet, da er der Gestapo als Mitglied des Haushofer-Kreises bekannt war. 1948 erschien sein Buch „Wir sind die Letzten“, in dem er dem von den Nazis ermordeten Haushofer ein Denkmal setzte. Im gleichen Jahr gründete Hildebrandt die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, die einen Suchdienst für politische Gefangene in der Sowjetischen Zone einrichtete.

Ein geduldiges Lächeln hat er parat bei der unvermeidlichen Frage, wie er auf die Idee gekommen sei, an der Mauer ein Mauermuseum zu gründen. „Es war nach dem 13. August 1961 für einen Publizisten das Naheliegende – und wie hätte man nach Auschwitz nicht auf die Idee kommen sollen... Ich habe meine besten Freunde während der Nazizeit verloren. Durch meine Arbeit lebe ich ein bißchen weiter mit diesen Freunden.“ Auch er hätte Schuld abzutragen, die Frage, welche Schuld, bleibt unbeantwortet.

Angefangen hatte alles 1963, in einer Dreizimmerwohnung in der Bernauer Straße im Wedding. Einen Beitrag zum Ende der Mauer wollte er leisten, und das Interesse der Menschen gab ihm recht. Die im Oktober 1962 eröffnete Ausstellung wurde so stark besucht, daß man sich nach neuen Räumen umsah und schließlich im ehemaligen Café Kölln am Checkpoint fand. Rainer Hildebrandt verschrieb sein Leben dem Museum, sammelte über Jahrzehnte Dokumente, Fotos, Monstrositäten des Kalten Krieges wie Fluchtautos, forschte über die Todesfälle an der Mauer, über Menschenschmuggler und Grenzsoldaten. Er fand Unterstützung und Freunde in der ganzen Welt. Sein ganzer Stolz ist die Totenmaske von Andrei Sacharow, die ihm dessen Witwe Elena Bonner für das Museum vermachte – sie sitzt auch im Vorstand der „AG 13. August“.

In der Westberliner Linken wurde Rainer Hildebrandt zu Mauerzeiten bestenfalls herablassend belächelt, sein Museum als Reliquiensammlung des Kalten Krieges abgetan. Dabei teilte er mit seinen Kritikern durchaus die Bewunderung für Mahatma Gandhi, Andrei Sacharow oder Martin Luther King. Von seinem Glauben an die Notwendigkeit von Aufklärung, von seiner Überzeugung, daß die Mauer irgendwann fallen werde, konnte ihn das nicht abbringen. Aber doch Brüche: Frei nach seinem Lieblingsphilosophen, Oswald Spengler, bezeichnet er es heute als „Logik des Schicksals, daß die Mauer über Nacht fällt, denn sie war über Nacht entstanden und wurde für die DDR ein Tempel“. Wie paßt die biologistische und kulturpessimistische Ideologie Spenglers zum Weltbild des Aufklärers? Rainer Hildebrandt bleibt die Antwort schuldig.

Fast ein Tempel für jeden Berlin-Touristen ist das Haus am Checkpoint Charlie auch heute noch, vier Jahre nach dem Mauerfall. Wenn er über sein Museum spricht, weicht die Zerstreutheit, die es mitunter schwermacht, ihm durch die Wirren fast eines Jahrhunderts deutscher Geschichte zu folgen. Erst in der vergangenen Woche legte die Arbeitsgemeinschaft 13. August auf ihrer 100.Pressekonferenz neue Zahlen über die Todesfälle an der Mauer vor. Sein Museum steckt in finanziellen Schwierigkeiten, nachdem nach der deutschen Vereinigung die meisten Zuschüsse gestrichen wurden. Zum allergrößten Teil muß es sich aus den Eintrittsgeldern der fast 3.000 Besucher täglich finanzieren. Doch der Mann vom Checkpoint Charlie ist zuversichtlich. Sein Museum werde uns alle überleben. Und er habe noch so viel vor.