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Argentiniens Mittelschicht verarmt

Der Wirtschaft geht es gut und dem Volk geht es schlecht / Hohe Mieten und Wohnungsnot / Hausbesetzer sollen vertrieben werden / Präsident Menem: „Es wird immer Arme geben“  ■ Von Astrid Prange

Rio de Janeiro/Buenos Aires (taz) – In dem feuchtkalten Weinkeller „Giol“ in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires hocken Hunderte Familien im Dunkeln. Die Hausbesetzer haben kein Geld, um ihre offenen Stromrechnungen zu begleichen. Nun sollen sie auch noch ihre improvisierte Bleibe verlieren. Der argentinische Präsident Carlos Menem hat in der vergangenen Woche die Polizei beauftragt, der zunehmenden Hausbesetzungen in der Innenstadt ein Ende zu bereiten und damit eine öffentliche Polemik über die neoliberale Wirtschaftsreform entfacht.

Rund 126.000 Familien wohnen im Großraum von Buenos Aires auf verlassenen Grundstücken oder in besetzten Häusern. Für Menem sind an der Belagerung die „Ausländer“ schuld. Die Latinos aus den Nachbarländern strömten in das argentinische Eldorado, um in der Zwölf-Millionen-Metropole am Wirtschaftswachstum teilzuhaben. Laut der konservativen Tageszeitung La Nacion verursachen die „fremden Usurpatoren“ gar „Panik in der Bevölkerung“.

Die Leiterin des Wohnungsamtes von Buenos Aires, Amelia Carranza, bestätigt, daß sich unter den Besetzern des Weinkellers „Giol“ auch Peruaner und Paraguayaner befinden. „Doch ihr Anteil beträgt noch nicht einmal 30 Prozent“, erklärt die Beamtin. Der Giol, das größte besetzte Gebäude in Buenos Aires, gehört dem städtischen Nahverkehrsunternehmen „Ferrocarriles Metropolitanos“. Das Unternehmen soll nun im Zuge der Wirtschaftsreform in Argentinien privatisiert werden.

Die Hausbesetzer, die der argentinische Präsident als „ausländische Eindringlinge“ bezeichnet, sind für den stellvertretenden Leiter der Caritas in Buenos Aires, Pater Osvaldo Musto, schlicht „bedürftige Landsleute“. Der Pater gab zu bedenken, daß viele der jetzt besetzten Häuser in den achtziger Jahren enteignet wurden, um der Erweiterung von Straßen Platz zu machen. Da die Bauvorhaben sich hinausgezögert hätten, seien die Obdachlosen von den städtischen Beamten sogar zur Besetzung der leerstehenden Gebäude ermuntert worden. „Die Besitzer sind schon lange entschädigt worden, die Häuser stehen leer“, stellt der Geistliche klar.

Carlos Zambianchi, Abgeordneter der Oppositionspartei UCR und stellvertretender Vorsitzender der Wohnungsbaukommission im Parlament, stimmt dieser Kritik zu: „Der öffentliche Wohnungsbau liegt total brach“, erklärt der Politiker. Die eingeplanten monatlichen Geldsummen, mit denen der Ausbau von Arbeitersiedlungen im ganzen Land gefördert werden soll, würden vom Wirtschaftsministerium zurückgehalten.

Eine Wohnung in Buenos Aires zu mieten ist für Angehörige der unteren sozialen Schichten so gut wie unmöglich. Aufgrund der Dollarisierung (die taz berichtete), ist die argentinische Hauptstadt zur Zeit eine der teuersten Städte der Welt. Der monatliche Unterhalt einer Familie liegt bei 1.150 US- Dollar. Unter 400 Dollar ist kein Zimmer zu bekommen. Zur Sicherheit verlangt der Vermieter außerdem sowohl einen finanzkräftigen Bürgen als auch drei Monatsmieten im voraus. Im Gegensatz zu diesen finanziellen Ansprüchen beträgt der staatlich festgelegte Mindestlohn gerade 200 Dollar. Die Industrie zahlt ihren Angestellten im Durchschnitt ein Monatsgehalt von 510 Dollar.

Dies alles ficht Präsident Carlos Menem nicht an. „Es wird immer Arme geben“, beschied er die kritischen Stimmen aus der Kirche. Die Erzbischöfe José Maria Arancibia und Candido Rubiolo hatten in einem öffentlichen Schreiben auf die hohen sozialen Kosten des Anti- Inflations-Programmes von Wirtschaftsminister Domingo Cavallo aufmerksam gemacht. „Die Wirtschaft im ganzen betrachtet ist stabil, doch dem Volk geht es schlecht“, erklärten die Geistlichen. Die Mittelschicht würde verarmen und die Armen gänzlich die Hoffnung verlieren.

Die in der vergangenen Woche veröffentlichten Arbeitslosenzahlen sind in der Tat alles andere als ermutigend. Seit dem Amtsantritt von Menem vor vier Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit verdoppelt. Allein in Buenos Aires sind 14 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung von 5,2 Millionen Einwohnern ohne Lohn und Brot. 1989 betrug der Anteil noch sieben Prozent. Wirtschaftsminister Cavallo hält dafür eine ganz besondere Erklärung parat: „Die Arbeitslosigkeit“, so der Harvard- Absolvent, „ist auf den zunehmenden Willen von Frauen und Jugendlichen zurückzuführen, auf den Markt zu drängen.“

Der politische Kommentator der argentischen Zeitung Pagina 12 sieht das anders: „In dem Wirtschaftsplan Cavallos gibt es keinen Platz für Arme“, schreibt Washington Uranga. Wer nicht der neuen sozialen Kategorie der Konsumenten angehöre, werde schlicht ausgestoßen. Im geheimen hofft die Regierung darauf, daß sich die Kirche der „Ausgestoßenen“ annimmt – selbstverständlich, ohne sich in die Politik einzumischen. Die Kirchenvertreter wiederum wissen, daß ihr Trommelfeuer Menem nicht kalt lassen kann. Schließlich sind im Oktober Parlamentswahlen, bei denen Hausbesetzer und andere „Ausgestoßene“ wählen werden.

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