: Denk ich an Nation in der Nacht...
Tilman Fichters Buch zur deutschen Sozialdemokratie und ihres prekären Verhältnisses zur Nation: Ein zorniger Blick zurück auf vier Generationen ■ Von Wolfgang Templin
„Die Linke in Deutschland und Europa befindet sich in einem beklagenswerten Zustand.“ Mit dieser zweifellos richtigen Feststellung beginnt der Noch-Bundesgeschäftsführer der SPD, Karlheinz Blessing, sein Geleitwort zu einer Arbeit von Tilman Fichter über SPD und Nation. Das im Ullstein- Verlag erschienene Buch wird unter Genossen nicht nur Freude auslösen. Tilman Fichter, Referent für Schulung und Bildung beim Parteivorstand der SPD und langjähriger SDS—Aktivist, meldet sich als „Parteisoldat“ und sperriger SPD—Intellektueller in einer Person zu Wort.
Mit dieser Arbeit hat er sich einem brachialen Kraftakt unterzogen und gleich den Stoff für mindestens vier Bücher ineinander gepreßt. Im Kern geht es ihm um die Frage, die schon August Bebel plagte, nämlich die Verbindung von Freiheit und nationalem Selbstbestimmungsrecht als Aufgabe der Sozialdemokratie. In historischen Exkursen zur Geschichte des Nationalbewußtseins der Deutschen und zum Umgang der SPD mit der nationalen Frage bereitet Fichter seine Auseinandersetzung mit der Nachkriegspolitik der Sozialdemokraten vor. Für ihn stellen sich die Veränderungen der Sichtweisen und das Gewicht, welches der nationalen Frage jeweils zukam, wesentlich als Problem von Generationsbrüchen dar. Durch das Fehlen stabiler demokratischer Institutionen und Traditionen in der deutschen Geschichte verzeichnet er eine dauernde fieberhafte Identitätssuche. Jede neue Generation entwirft ihre eigenen Vorstellungen von nationaler Identität. Damit gibt Fichter dem schon zur Floskel gewordenen Wort von den „Enkeln“ und ihren Vorgängern eine konkretere Fassung.
Weimarer Elite, Kriegs- und KZ-Generation, HJ- und Flakhelfer sowie die in der Nachkriegszeit geborenen Enkel sind in seinem Verständnis mit jeweiligen Kollektiverlebnissen, Traumata und Verdrängungen konfrontiert, die sie innerhalb der SPD für bestimmte Haltungen zur nationalen Identität und zu den Perspektiven Deutschlands prädestinieren.
Fichter hat beim Schreiben des Buches den Leserkreis der 25- bis 35jährigen, also die Urenkel vor Augen gehabt. Aber auch beim Gedanken an die „weißen Flecken“ einer Leserschaft aus der früheren DDR ist sein Bemühen um die verständliche Darstellung der deutschlandpolitischen Kontroversen der Bundesrepublik alles andere als überflüssig. Ob es um die großen Kontrahenten Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, den Weg der SPD nach Godesberg oder um die Anfänge der neuen Ost- und Entspannungspolitik geht, Fichter beharrt auf mindestens zwei unbequemen Schlußfolgerungen:
1. Eine starke nationale Komponente der Nachkriegssozialdemokratie unter Kurt Schumacher wurde unter dem Eindruck der SPD-Wahlniederlagen und der zunehmend erfolgreichen Westintegration zurückgedrängt. Mit Godesberg stand die Einheit Deutschlands nicht mehr auf dem Fahrplan der SPD-Politik. In der folgenden Entwicklung, die Fichter als „Realitätsferne der Reapolitik“ beschreibt, verkümmert der Ansatz einer neuen Ost- und Entspannungspolitik unter Willy Brandt sehr schnell zum etatistischen Gleichgewichtsdenken, dem die Durchsetzung der Menschenrechte untergeordnet wurde.
2. Dieses Arrangement mit einer neuen Diktatur auf deutschem Boden und dem Verzicht darauf, „Einheit in Freiheit“ als wirkliche Leitlinie praktischer Politik durchzuhalten, ist nicht nur das Versagen der SPD. Hinter Wiedervereinigungsrhetorik und verbalen Angriffen auf die „sowjetzonale Diktatur“ exekutierte auch die CDU seit Adenauer den Verzicht auf eine langfristige Deutschlandpolitik. Westintegration und nationale Einheit wurden nicht mehr zusammengedacht.
Fichter geht es aber vordringlich um das Versagen der eigenen Partei. In einem eindringlichen Kapitel „Kalte Herzen — verfehlte Strategien“ beschreibt er, wie die Verkennung und Leugnung des Befreiungs- und Einigungsbestrebens in Ostdeutschland zur Blockade der gesamten gegenwärtigen SPD-Politik führte. Hierfür lieferten die jüngsten Wahlniederlagen eine bittere Quittung. Nur ein kleiner Personenkreis innerhalb der Partei, Leute wie Gert Weisskirchen, Norbert Gansel und Freimut Duve setzte bewußt auf Kontakte zur DDR-Opposition und zur osteuropäischen Dissidenz. Sie sind bis heute mehr oder weniger Außenseiter geblieben. Tilman Fichter gehört zu ihnen.
Wenn Fichter das Denkverbot und die Tabuisierung der Diskussion in Sachen „neue nationale Identität der Deutschen“ durchbricht, spricht das nur für ihn. Die Diskussion um eine moderne, nicht auf ethnische und kulturelle Momente reduzierte Identität muß geführt werden, solange Politik wesentlich im nationalstaatlichen Rahmen gestaltet wird und die Krise im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß die europäische Integration belastet. Die Dimension der Freiheit, die Durchsetzung der Menschenrechte und das Festhalten an immer wieder gefährdeten und unterbrochenen demokratischen Traditionen ihrer Geschichte kann zur Identität von Deutschen gehören, die sich dem Fegefeuer der Geschichte nicht entziehen. Weder lassen sich die ungeheuren Verbrechen der jüngeren Geschichte kleinreden, noch kann man sich mit Hinweis darauf von der positiven Gestaltungsverantwortung, welche die neue Bundesrepublik jetzt hat, verabschieden. Zwischen „nationalem Selbsthaß und nationaler Selbstgefälligkeit“ ist ein Platz zu besetzen, wie es Bernd Ulrich formuliert.
Trotz all dieser wichtigen Einsichten und Provokationen bleibt das Buch Fichters in weiten Teilen widersprüchlich und unbefriedigend. Er hat weit ausgeholt und zu kurz geworfen. Sicherlich ist ein demokratischer nationaler Konsens in Deutschland nicht ohne eine glaubwürdig erneuerte Sozialdemokratie vorstellbar. Eine demokratische Option für Europa, die nationale Bindungen und Identitäten nicht verleugnet, sondern zugrunde legt, wird aber über Parteigrenzen und Lager hinweg erwachsen müssen.
Zwischen einem Tilman Fichter als Kritiker des Versagens der SPD in der Frage der Menschenrechte und dem SPD-Parteistrategen Fichter klafft ein ziemlicher Graben: Wenn er bitter konstatiert, daß führende Politiker der SPD bis heute nicht bereit seien, ihre falsche Politik einzugestehen und die schmerzhafte Auseinandersetzung über die Folgen dieser Fehler für die gegenwärtige Profillosigkeit der Partei zu führen – dann ist er realistischer als in seinen Hoffnungen auf schnelle Läuterung. Schließlich tobt der west-ostdeutsche Verteilungskampf am heftigsten über die SPD.
Was kann unter diesen Voraussetzungen von einer positiven Aufnahme der nationalen Diskussion durch die SPD erhofft werden? Hier scheinen die Gefahren größer als die Chancen. Die Suche nach nationalen Identitätsmomenten, die sich letztlich doch vor deutscher Unheilsgeschichte und der europäischen Dimension der nationalen Fragestellung drückt, landet sehr schnell bei folkloristischen Platitüden, moralischen Appellen und noch gefährlicheren Rückgriffen auf andere National„bestände“. Die Auslassungen eines neubegründeten „Hofgeismarer Kreises“ innerhalb der SPD zeigen jedenfalls, daß nicht jede Bemühung voranbringt.
Tilman Fichter: „Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit“. Ullstein, 320 S., DM 36.-
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