■ Die SPD nominiert Rau für die Weizsäcker-Nachfolge: Rau contra Reich
Will man in Bonn weiterhin ungestört alte Bundesrepublik simulieren, wird man schwerlich einen passenderen Kandidaten für Weizsäckers Nachfolge finden als Johannes Rau. Der langjährige Ministerpräsident des größten Bundeslandes ist garantiert affairenfrei, er versöhnt lieber als zu spalten, und wo die Konflikte offenliegen, tut Rau sein möglichstes, sie mit volkstümlich unterlegter Rhetorik abzufedern und ein wenig zuzudecken. Mit Rau, das ist sicher, gäbe es keinen Ärger. Er hat die Milde, die vor allem Konservative an Sozialdemokraten zu schätzen wissen.
Das mag einer der Gründe gewesen sein, warum selbst Kohl schon mal mit dem Gedanken spielte, er könne Rau sein Plazet geben. Sicher, wenn der Kanzler seine Macht in der Weizsäcker-Nachfolge nicht voll zu Gunsten der Union ausspielte, wäre das eine kleine Sensation. Doch die Sensation wäre von anderer Qualität, wenn diesmal nicht eine Partei zugunsten einer anderen, sondern die Parteien zugunsten einer Kandidatur aus der Gesellschaft auf das Spitzenamt verzichteten. Die Unterstützung von Jens Reich jedenfalls, der von einer Gruppe namhafter Intellektueller unterschiedlicher politischer Provenienz vorgeschlagen wurde, wäre nicht nur eine denkbare Reaktion der Parteien auf ihre Legitimationskrise, sondern zugleich eine Einladung an die Gesellschaft, sich an der anstehenden Krisenbewältigung zu beteiligen. Für eine politische Elite, die sich mit den Problemen der neuen Bundesrepublik derart schwertut, bedeutete dies ja nicht einfach Machtverzicht, sondern zugleich die Entlastung von der Alleinverantwortung, die die Gesellschaft „der Politik“ immer dann gerne zuschiebt, wenn hinter turmhohen Problemen die Sicht auf Lösungen endgültig versperrt scheint. Ein Bundespräsident aus der Gesellschaft wäre nicht die Lösung – die Bereitschaft aber, daß künftig die Lösungen auf andere, eben nicht altdeutsche Art gesucht werden könnten, signalisierte er schon.
Muß es ausgerechnet die SPD sein, die jetzt mit der Nominierung Raus die Chancen für einen Bürger- Präsidenten minimiert? Hinter vorgehaltener Hand äußern auch Sozialdemokraten ihr Unverständnis dafür, daß sich die Parteispitze von der Reich-Kandidatur nicht einmal irritieren ließ. Dabei erscheint die jetzt verordnete Loyalität für den Spitzengenossen Rau um so unverständlicher, als Kohl sich längst auf die Suche nach einem unionskonformen Ost-Kandidaten begeben hat. Den wird er finden und durchsetzen, wenn sich die möglichen Alternativen gegenseitig blockieren. Denn Rau gegen die Union ist ebenso aussichtslos wie Reich gegen die Parteien. Ein Kandidat aus der Gesellschaft mit Unterstützung der SPD hingegen wäre ein Herausforderer, mit dem selbst Kohl am Ende zu rechnen hätte. Matthias Geis
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