„Totaler Krieg“ statt politischer Lösung

Nach wie vor hält die kurdische Guerilla PKK die im Osten der Türkei Entführten fest. Gestern gab es erneut 15 Tote bei PKK-Überfällen, 17 Guerilleros starben bei Armee-Einsätzen. Der türkische Staat setzt auf eine militärische Lösung in Kurdistan.

Seit Montag befinden sich in den Räumen des Istanbuler Menschenrechtsvereins Redakteure der Tageszeitung Özgür Gündem im Hungerstreik – ein Aufschrei gegenüber der staatlichen Gewalt. Denn die türkische Regierung versucht, das von oppositionellen Kurden herausgegebene Blatt zum Schweigen zu bringen.

Chefredakteur Gurbettelli Ersöz faßt die Erfahrungen der Belegschaftsmitglieder wie folgt zusammen: „Willkürlich beschlagnahmen Polizeichefs unsere Zeitung und verbieten den Vertrieb. Nahezu jeden Tag dringen sie in unsere Büros ein und plündern. Unsere Korrespondenten werden entführt, festgenommen und ermordet. Im Gefängnis sitzen unser Nachrichtenchef Seyh Davut Karadag in Istanbul, unser Samsuner Bürochef Mehmet Yazici in Erzurum, unsere Mardiner Korrespondentin Nezahat Özen in Urfa, unser Dogubeyaziter Korrespondent Ahmet Icge in Agri. Unser Büroleiter in Cizre, Salih Tekin, wurde festgenommen und sitzt auf dem Polizeipräsidium in Cizre. Unser Korrespondent in Bitlis, Ferhat Tepe, wurde von Zivilpolizisten entführt und anschließend in Elazig ermordet. Unsere Istanbuler Korrespondentin Aysel Malkac wurde vor 17 Tagen von Zivilpolizisten entführt. Obwohl seit diesem Vorfall schon einige Zeit verstrichen ist, haben die amtlichen Stellen es noch nicht einmal für nötig gehalten, eine Erklärung abzugeben.“

Von „physischer Vernichtung der kurdischen Opposition“ ist da die Rede. Die Zeitung Özgür Gündem zahlt den Blutzoll für ihre Berichterstattung über Türkisch- Kurdistan. Auch Funktionäre und Mitglieder der „Demokratischen Partei“, die die Nachfolge der vom Verfassungsgericht verbotenen kurdischen „Arbeitspartei des Volkes“ antrat und mit 18 Abgeordneten im nationalen Parlament vertreten ist, sind Opfer staatlicher Repression. Während vorwiegend kurdische Oppositionelle den Hungerstreik der Gündem-Redakteure unterstützen, kommen auch Familien, deren Kinder während ihrer Militärzeit von Partisanen der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) entführt wurden, in den Menschenrechtsverein. So haben etwa die Familien der entführten Soldaten Irfan Ilhan und Burhan Katilmis die Rechtsanwälte im Menschenrechtsverein um Hilfe gebeten. Rechtsanwalt Eren Keskin fordert in einer Presseerklärung die PKK auf, die Gefangenen freizulassen, anschließend wird mit der staatlichen Kurdistan-Politik abgerechnet: „Wir wollen, daß dieser Krieg beendet und eine politische Lösung herbeigeführt wird. Der Staat hat in diesem Krieg ganze Dörfer verbrannt und chemische Waffen eingesetzt. Nebenbei läßt er für die eigenen Soldaten 5.000 Leichentücher nähen.“

In dem Hungerstreik der Gündem-Redakteure oder dem Auftritt von Angehörigen entführter Soldaten im Menschenrechtsverein spiegelt sich der blutige Krieg zwischen der Armee und der PKK wider, die einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat führt. Längst werden die Dutzende von Todesopfern in Kurdistan in der bürgerlichen Presse nur noch als Kurzmeldungen gebracht. Etwa die Nachricht, daß am vergangenen Montag in dem Dorf Akcayir in der kurdischen Provinz Siirt die Familie Abacan, darunter ein dreijähriger Sohn und die zwölfjährige Tochter, umgebracht wurden. PKK-Militante hatten mit Maschinengewehren angegriffen. Ihr galt der kleine Ort als „Verräter- Dorf“: Die Kurden des Dorfes seien Mitglieder der sogenannten Dorfmiliz, die vom türkischen Staat bezahlt würde, um gegen die PKK zu kämpfen. In dem Dorf Kapikaya in der Provinz Erzincan erschossen PKK-Partisanen kurzerhand die Eltern des Dorfvorstehers, der sich geweigert hatte, den Guerilleros Lebensmittel zur Verfügung zu stellen.

Opfer staatlicher Gewalt sind kein Thema mehr

Mittlerweile erscheinen auch die Opfer von PKK-Gewalt nur noch als Kurzmeldungen. Die Opfer der Staatsgewalt – die Morde an kurdischen Intellektuellen, die Vertreibung von kurdischen Bauern und die Todesschüsse auf kurdische Demonstranten – sind für die türkischen Medien längst kein Thema mehr. Seite an Seite mit dem Generalstab und dem Staatsapparat hat man im „totalen Krieg“ Partei ergriffen und betreibt eifrig Propaganda: „100 PKK-Militante eingekesselt und getötet“, lautete da eine Siegesmeldung.

Das Ende der PKK sei nah, verkünden die türkischen Politiker. „Der Staat wird diese Geschichte beenden“, sagte jüngst der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel gegenüber der Tageszeitung Hürriyet. Im Dezember 91 war die Koalitionsregierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Demirel mit dem Versprechen angetreten, die „kurdische Realität anzuerkennen“. Doch statt auf Liberalisierung setzte man auf eine „militärische Lösung des PKK-Problems“. Auch die neue Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die seit wenigen Monaten im Amt ist, preschte zunächst mit dem Vorschlag vor, ein kurdisches Fernsehen einzurichten und kurdische Erziehung zuzulassen. Doch damit stieß sie auf erbitterten Widerstand in der eigenen Partei – und innerhalb des Militärapparates.

Heute ist von all dem keine Rede mehr. Eine Liberalisierung könnte als Konzession an die PKK ausgelegt werden, befürchten die türkischen Politiker. Statt dessen werden Überlegungen angestellt, wie man den militärischen Kampf gegen die PKK effizienter führen kann. Die Regierung hat die Bildung von mobilen Sondereinheiten angekündigt, die der Polizei unterstellt und speziell für den Guerillakrieg ausgebildet werden sollen.

Die regulären Armeeverbände, die aus Wehrdienstleistenden zusammengestellt werden, haben in Türkisch-Kurdistan große Verluste einstecken müssen. Zum Skandal kam es, als türkische Faschisten anboten, in den Reihen der neuen Sonderarmee zu kämpfen. Immerhin fänden damit ehemalige „Graue Wölfe“, die in den siebziger Jahren für die Ermordung linker Intellektueller, Studenten und Arbeiterführer verantwortlich waren, in Kurdistan ein neues Betätigungsfeld.

PKK-Chef Abdullah Öcalan hat inzwischen den Glauben daran, daß dem türkischen Staat an einer politischen Lösung gelegen ist, verloren. Er hofft seinerseits darauf, daß die türkische Armee bald aufgibt. In einem Interview mit der Özgür Gündem nimmt Öcalan Stellung zu den jüngsten Entwicklungen. „Einer will einen Sonderkrieg führen, der andere will die reguläre Armee beibehalten wissen. Der erweiterte Krieg wird Spaltungen hervorrufen: Das Militär, das in Kurdistan aufgerieben wird, könnte eine politische Lösung erzwingen.“ Im kommenden Jahr, kündigte der Guerilla-Chef an, werde die PKK die Zahl der Anschläge auf touristische Zentren fortsetzen. Ömer Erzeren, Istanbul