Fragen aus dem Spieglein

■ Fotografien von Gisela Bullacher bei der Gesellschaft für Aktuelle Kunst

„Nicht lesen — sehen!“ In diesem Ausruf, Titel eines Essays von 1928, gipfelte damals die Debatte um „Fotografie als neue Weltsprache“. Jedes Bild ein Wort, jedermann verständlich in seiner buchstäblich glasklaren Bedeutung - diese utopische Vision malten sich die Fotografen der „Neuen Sachlichkeit“ gern aus. Daß ihre Bilder, streng formalisiert und auf nüchtern getrimmt, so eindeutig doch nicht waren, ahnten bereits ihre Zeitgenossen: Der Verleger von Albert Renger-Patzschs Bildband „Die Dinge“ erkannte unschwer das theatralische, ja: euphorisierende Potential der Bilder und benannte das Prachtbändchen um in „Die Welt ist schön“.

Als später Reflex dieser Diskussion lassen sich die Fotografien von Gisela Bullacher lesen. Die in Hamburg lebende Künstlerin stellt in der Galerie der GAK (Gesellschaft für aktuelle Kunst) auf der Teerhofinsel großformatige Bilder aus, die mit den Stilmitteln der neusachlichen Lichtbildner spielen. Leicht ließe sich der Titel „Die Dinge“ borgen: Einfache Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind hier abgebildet. Aber nichts an ihnen scheint gewöhnlich oder gar leicht verständlich. Bullacher läßt die Dinge nicht in einer

Von der sachlichen Dokumentar-Fotografie in magische Gefilde der Lichtbildnerei

Sprache, sondern in vielen Stimmen sprechen.

Oberflächlich betrachtet, scheinen die Dinge fast kunstlos abgeknipst zu sein. Ordentlich in die Bildmitte gerückt und ohne den Schatten eines Lichteffekts, präsentieren sich Handspiegel, Fahrradreifen und Sandsack vor ihrem weißen Hintergrund. Das sagt doch eigentlich alles, könnte man jetzt vermuten — aber schon fängt der Spiegel an, komische Fragen zustellen; schon spiegelt sich der Betrachter im Panzerglas der Bilderrahmen; schon wölbt sich der Sandsack mächtig vor und hängt plötzlich als plastisches Objekt im Raum.

Die fast magische Präsenz der Dinge gehört zu den vielen, subtilen Irritationen, auf die Bullacher zielt. Mit wenigen Kunstgriffen — Isolierung der Bildgegenstände, Spiel mit den Größenverhältnissen — lädt sie die vermeintlich sachlichen Bilder mit einer Fülle von Bedeutungen auf, vom Abbildhaften bis zum Allegorischen.

Die feierlichen Vanitas-Gemälde der Altniederländer lassen grüßen, ebenso die Industrie-Fotografie von Bernd und Hilla Becher. Doch anders als die Bechers und ihre populären Schüler, spielt die Frage, ob das nun dokumentarisch oder schon inszeniert sei, für Bullacher keine Rolle mehr. In ihren vielsprachigen Bildern findet die alte Glaubensfrage ihre elegante Auflösung. Thomas Wolff

Gisela Bullacher, vom 4.9. bis 17.10. in der GAK, Teerhof 21