: Grundmodell eines pervertierten Antifaschismus
■ „Waldheim“ war kein einzigartiger Exzeß aus der Frühphase der DDR, sondern vielmehr ein Laboratorium für Formen einer SED-gesteuerten Scheinjustiz
Abgeschlossen wurde mit dem gestrigen Urteil im ersten Prozeß gegen einen „Waldheim“-Richter eine rechtsgeschichtliche Lektion von bleibendem Wert. Entlang strafprozessualer Beweisregeln ist hier minutiös ein Justizverbrechen rekonstruiert worden, das weit über das Jahr 1950 hinaus beispielhaft ist für die Justizpraxis der DDR. Anders gesagt, „Waldheim“ war kein einzigartiger, sich nicht mehr wiederholender Exzeß aus der Frühphase der DDR, sondern vielmehr ein Laboratorium für Formen einer SED-gesteuerten Scheinjustiz, die die Justizgeschichte der DDR von Beginn bis Ende durchzogen – wann immer die Partei bzw. die SED-Führung und ihr Apparat am konkreten Verfahren Interesse anmeldeten.
Zwar ist die Parteiführung spätestens seit den siebziger Jahren schamhafter geworden, wurden Justizexzesse nicht mehr auch noch propagandistisch herausgestellt wie in den frühen Jahren. Doch daran, daß die hierarchische Gerichtspyramide sich über das Oberste Gericht der DDR hinaus bis ins Politbüro und ins Arbeitszimmer des 1. Sekretärs der SED verlängerte, änderte sich bis zum Ende der Ära Honecker nichts. Wann immer die Partei es wollte, wurden Staatsanwälte und Richter zu Zeremonienmeistern für Einzelfallentscheidungen, die längst an anderer Stelle getroffen worden waren. Doch nicht nur für solcherart gelenkter „Parteijustiz“ sind die Waldheimer Exzesse beispielhaft. Gleichermaßen gilt dies für den Beitrag, den die DDR-Justiz zur „antifaschistischen“ Identitätsstiftung der DDR zu leisten hatte. Aus den papiernen Exkrementen des zentralen Parteiapparates der SED, des MfS, des Ministeriums für Justiz etc. quillt einem heute eine „antifaschistische“ Jauche entgegen, die ihresgleichen nicht findet – bewertet an den selbst aufgestellten Maßstäben.
Soweit es die „konsequente“ Abrechnung mit NS-Verbrechen und die zielstrebige Verhinderung des Zugangs ehemaliger Parteigänger und Profiteure des NS-Regimes in einflußreiche Positionen im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands betraf, schien die DDR in den Augen der bundesrepublikanischen Linken der „bessere Teil“ Deutschlands zu sein. Dies war bereits 1950 eine der politischen Botschaften der Waldheimer „Prozesse“ gerade in Richtung „BRD“. Es sollten, so beschloß das Politbüro, „die Verbrechen der Verurteilten, besonders für die westdeutsche Bevölkerung, bekanntgemacht werden“.
Daß die SED zum Zeitpunkt der Waldheimer „Prozesse“ bereits begonnen hatte, sich mit Ex- Nazis und Profiteuren des NS-Regimes zu arrangieren, soweit sie bereit waren, dem neuen Regime vorbehaltlos zu dienen, blieb mehr oder weniger verdeckt. Doch gab es längst ehemalige Funktionsträger aus der NS-Zeit in SED-Diensten, die sich der Nichtverfolgung sicher wissen konnten, während parallel in Waldheim ähnlich leicht oder schwer aus der NS-Zeit belastete Personen der antifaschistischen Propaganda geopfert wurden. Zumindest bei einem Waldheim-Richter führte dies zum Widerspruch. Dieser Volksrichter, der selbst zwischen 1942–45 als politischer Häftling im Zuchthaus Waldheim eingesessen hatte, verweigerte die Verurteilung eines ehemaligen Sprechers beim Berliner Rundfunk mit folgender Begründung: „Wenn seine Kollegen und Vorgesetzten als Pgs (Parteigenossen, d. Red.) heute in der DDR wieder an maßgebender Stelle tätig sind, kann man den Nicht-Pg, der an einfacher Stelle stand, nicht gut verurteilen.“ Im Beschluß heißt es dann weiter: „Sein Vorgesetzter war Horst Dressler Andrees (Pg und Ehrenzeichenträger) – früher: Präsident der Reichsrundfunkkammer, Leiter der Abt. Rundfunk im Propagandaministerium; heute: Intendant des Landessenders Weimar.“ Die Intervention blieb erfolglos. Der Rundfunksprecher wurde zu acht Jahren Haft verurteilt.
Verurteilt zu lebenslanger Haft wurde in Waldheim u.a. der ehemalige Reichskriegsgerichtsrat Hans-Ulrich Rottka, der 1942 durch einen Erlaß Hitlers wegen seiner zu milden Haltung in den Ruhestand versetzt worden war, während zum Zeitpunkt der Waldheimer „Prozesse“ die zweite Karriere Arno von Lenskis bereits begonnen hatte, der einst am Volksgerichtshof an Todesurteilen beteiligt war. Er baute die Panzerverbände der Kasernierten Volkspolizei auf und beendete seine Karriere als NVA-General. Zur selben Zeit saß dem Obersten Gericht der DDR ein Präsident vor (Kurt Schumann), der 1933 SA-Scharführer war, 1937 Mitglied der NSDAP wurde und als Kriegsgerichtsrat bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Ihm zur Seite stand ein Generalstaatsanwalt, der es im Faschismus zum Kammergerichtsrat gebracht hatte und 1940 vom „Führer“ mit der „Treueauszeichnung, 2. Stufe“ belobigt wurde: Ernst Melsheimer.
Wie heute SED-Kaderanalysen aus dem Parteiarchiv deutlich machen, war dies nur die Spitze des Eisberges. Zehntausende ehemalige NSDAP-Mitglieder hatten inzwischen den Weg in die SED gefunden; ehemalige NSDAP-Kreisleiter hatten sich zu SED-Kreisleitungsmitgliedern und Leitungsmitgliedern von SED-Grundorganisationen gewandelt, während der 1946 internierte ehemalige HJ- Pimpf 1950 in Waldheim zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Nicht aber der HJ-Pimpf wurde 1952 begnadigt, als die ersten vorzeitigen Entlassungen von Waldheim-Verurteilten begannen, sondern zum Beispiel ein Dr. R. Er hatte 1943 Angehörige eines NS- feindlichen Kreises in Berlin um Fräulein von Tadden, Helmut von Moltke und Frau Solf bei der Gestapo denunziert. Sie wurden 1944 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nach der Entlassung ging Dr. R. nach Berlin-West. Die bekannte Kammergerichtsentscheidung aus dem Jahre 1954, mit der die Waldheimer „Prozesse“ als „unheilbar nichtig“ erklärt wurden, öffnete der Westberliner Justiz das Tor, um gegen Dr. R. wegen der tödlichen Denunziation ein Strafverfahren einzuleiten. Dr. R. ging in die DDR zurück und arbeitete fortan als Chefarzt einer Klinik in Luckenwalde.
Was diese Beispiele zeigen, ist die Willkür, mit der Belastungen aus der NS-Zeit in der DDR geahndet wurden. Wie sehr tagespolitische Propagandabedürfnisse hierfür ausschlaggebend waren, belegt u. a. der Fall Erna Dorn. Sie war im Mai 1953 vom Bezirksgericht Halle als ehemalige Wärterin des KZ Ravensbrück zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil enthält nur pauschale Vorwürfe und keine Hinweise, geschweige denn Belege, daß sie unmittelbar an der Ermordung von Häftlingen beteiligt gewesen sei. Am 17. Juni 1953 beim Sturm auf das Gefängnis in Halle befreit, wurde sie am nächsten Tag von Stasi-Mitarbeitern wieder festgenommen und tagelang in der DDR-Presse als einer der faschistischen Rädelsführer des Putsches vom 17. Juni präsentiert. Ehemalige Häftlingsfrauen aus Ravensbrück schilderten im Neuen Deutschland die Verbrechen der „Hundeführerin Erna Dorn alias Rabestein“ und forderten die Todesstrafe. Sie wurde vom Bezirksgericht Halle wenige Tage später ausgesprochen. Das Oberste Gericht und das Politbüro bestätigten das anschließend vollzogene Urteil. Indes gab es keine „Erna Dorn alias Rabestein“. Eine Hundeführerin namens Rabestein aus dem KZ Ravensbrück war bereits 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Da aber die aktuelle Situation abschreckende Urteile verlangte, wurde jener Frau Dorn eine andere Biographie untergeschoben, die ein Todesurteil legitim erscheinen lassen sollte.
Dieser instrumentalisierte, vor keinen Fälschungen und tödlichen Propaganda-Inszenierungen zurückschreckende „Antifaschismus“ setzte sich bis zum Ende der DDR fort. Verständlich vor dem Hintergrund der identitätsstiftenden Selbstlegitimation der DDR als des „besseren, weil konsequent antifaschistischen Teils“ Nachkriegsdeutschlands, richtete sich die Propaganda vor allem gegen die Bundesrepublik. Den Nachweis der Nichtahndung von NS- Verbrechen und fortlebender neonazistischer Tendenzen in der Bundesrepublik muß die SED- Führung als so essentiell bewertet haben, daß es ihr nicht ausreichte, immer wieder die zweifelsohne großen offenen Wunden der bundesdeutschen Gesellschaft im Umgang mit der NS-Zeit vorzuführen. Im Mai 1961 beschloß das Politbüro eine „Kampagne zum Prozeß Eichmann in Jerusalem“. Die MfS- Hauptabteilung XX/4 „unterfütterte“ diese Kampagne mit den Aktionen „J“ und „Vergißmeinnicht“. Ein Genosse reiste nach München, um Anschriften dort ansässiger jüdischer Bürger und Vereine sowie Anschriften israelischer Bürger zu sammeln. Stasi-Mitarbeiter entwarfen indes Drohbriefe an jüdische Bürger in der Bundesrepublik, damit die Welt ein in kräftigen Farben gemaltes Bild neonazistischer Entwicklungen in der „BRD“ zu sehen bekäme. Falco Werkentin
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