Tragödie der kleinen Schritte

■ „Medea“ von Hans Henny Jahnn zum Saisonauftakt im Schauspielhaus / Aus dem Tempel in die bürgerliche Wohnstube

„Neger und Barbaren — wie Tiere“, die erschossen gehören. Das klingt doch altvertraut. Kein neogermanischer Kahlkopf röhrt hier, sondern König Kreon: Als blasierter Sack im feinen Anzug tritt er den Bremern heuer entgegen, auf der Bühne des Schauspielhauses, und beschimpft die dunkelhäutige Medea, „die Afrikanerin“. Es sind düstere Töne wie diese, die Regisseur Hansjörg Betschart in seiner „Medea“-Inszenierung zum Schwingen bringt. Ganz im Sinne Hans Henny Jahnns, der den Mythos Anfang der dreißiger Jahre aufgriff, im Zusammenbruch der Demokratie: „Wir alle tragen die Spuren der grausamen Erleuchtungen und Knechtungen in uns“, schrieb Jahnn; „sie liegen nicht hinter uns, trotz der Veränderungen und Gebräuche der Europäer untereinander.“

Nun drückt uns Betschart die grausige Aktualität des Mythos' zum Glück nicht penetrant aufs Auge. Seine Tragödie spielt ebenso im Heute wie in ferner Vergangenheit. Versatzstücke korinthischer Säulen weisen in die Antike; das Mobiliar im Hause Jasons und Medeas aber, ein Fernsehsessel nebst Stehlampe, lieh Betschart aus der bürgerlichen Wohnstube unserer Tage. Und auch da ist er ganz bei Urvater Jahnn. Die „sagenhafte Urgeschichte“ der Medea bildet bei ihm die Folie, auf der „der typisch naturalistische Ablauf des vitalen Lebens“ sich entfaltet, „grausam, unerbittlich und dennoch rätselhaft“.

Die ganze Mächtigkeit solch verschrobenen Expressionisten- Pathos aber läßt die Bremer Medea dann doch nicht spüren. Nur schwach läßt sie ihre halbgöttliche Vergangenheit durchblicken; die Medea, die uns Cornelia Kempers hier liefert, ist ein von allen Sinnen besessenes Vollweib aus Fleisch und Blut und Leidenschaft. Verzweiflung wie Verlangen spielt sie mit Inbrunst aus. Ohne die feierliche Würde von Jahnns geschraubter Prosa dranzugeben, haucht sie dem Text doch neues Leben ein — ein Balanceakt, den neben ihr auch Manfred Heine (König Kreon) und Sebastian Dominik (sein Bote) glänzend überstehen. Und all das ohne permanentes Gehampel und Gebrüll: Kempers spannt den Klagetext Medeas zu einer wahren Fieberkurve, mal mächtig flüsternd, mal ohnmächtig kreischend.

So steht Medea wildbewegt im Zentrum, im Brennpunkt aller Irrungen und Wirrungen. Wie prächtig spektakelnd hätte man das inszenieren können; wie publikumswirksam hätte man da mit dem Feuer des Rassismus spielen können. Doch Betschart, der auch das Bühnenbild besorgte, gibt uns nur karges Augenfutter. Keine Knalleffekte, sondern die Essenz. Im Flüsterton werden die Sehnsüchte offenbart, in kleinen Schritten die Bewegungen von Zuneigung und Abneigung vorgeführt. Zweieinhalb Stunden lang eine genau kalkulierte, sehr präzise und effektive Choreografie: Medea und Jason, einander umkreisend, belauernd, betrügend. Jeder Schritt behutsam und mit Bedacht geplant — aber fern des mechanischen Marionettentheaters eines Robert Wilson. Das eiskalt konstruierte liegt Betschart so fern wie das Exaltierte: Seiner „Medea“ geht es um Gefühle, nicht Affekte; Gedanken, nicht Besserwisserei. Thomas Wolff

Mehr „Medea" am 12., 15. und 16.9.