■ Zweiter Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag
: Standort Drahtseil

Auch die Altvorderen, Ludwig Erhard, Willy Brandt und Helmut Schmidt, geisterten durch die Debatte. Wie die Republik, wie die Parteien und ihre führenden Politiker die Umbrüche des Jahres 1989 gemeistert oder davor versagt haben, darüber werden die Wähler in der Wahlserie des nächsten Jahres urteilen. Das Urteil, wie die verantwortlichen Akteure aus den beiden großen politischen Lagern wohl wissen, könnte lauten: gezählt, gewogen und für zu leicht befunden. Denn das Land befindet sich in seiner tiefsten Krise, und die Stimmung ist labil. Zeit also für Standortbestimmungen.

Die Standortsuche des Kanzlers hat zu klaren Resultaten geführt: Sein Thema ist der Standort Deutschland. Dabei geht es keinesfalls nur um kalte Ökonomie oder Wirtschaftsinteressen. Während der liberale Koalitionspartner vor allem diese Tasten der Klaviatur bedient, versucht die Union mit diesem Schlagwort nicht weniger als eine tiefgehende Umorientierung in der ganzen Gesellschaft. Kohl wird, ganz anders als 1990, keinen Wahlkampf der Verheißungen führen.

Ausdrücklich gehört zum Programm, daß die Zeiten Umdenken und Opfer verlangen, das Gemeinwohl wieder vor den Eigennutz rücken muß, mehr gearbeitet und weniger gefeiert werden soll. Doch unausgesprochen verspricht die konservative Fortschrittsbotschaft auch: Wenn wir uns diesen Mühen unterziehen, dann bleibt erhalten, was uns teuer ist, der Wohlstand und die Sicherheit. Von der Kunst, in die Zukunft zu denken, ohne jemandem den Aufbruch zu neuen Ufern zuzumuten, hat Helmut Kohl schon immer mehr verstanden als seine Widersacher.

Die SPD hat es unverändert schwer, neben dem gewichtigen Übervater der Nation zu bestehen. Wenn Kohl beiläufig den Blick über die Welt streifen läßt, von Verantwortung und Staat spricht, ach, dann merkt jeder, daß die SPD seit vielen Jahren nicht mehr regiert und ihr Vorsitzender gerade am Anfang steht. Und die Problemlagen sind eben so, daß die Opposition kaum andere Fragen stellen kann, als die, mit denen die Koalition ins Wahljahr gestartet ist. Immerhin haben Scharping und Fraktionschef Klose den wunden Punkt getroffen: Kohls Weg vom Status quo zu einer veränderten Zukunft ist ein Drahtseilakt. Denn den beklagenswerten Status quo hat er nach elfjähriger Regierungszeit selbst zu verantworten, und was am Rednerpult des Bundestags patriarchalisch- gelassen klingt, wird bei vielen verunsicherten Bürgern als selbstgefälliger Hochmut ankommen. Scharpings Formel ist nicht schlecht: Mag sein, daß wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, aber fest stünde wohl, daß wir unter unseren Möglichkeiten regiert werden. Fehlt nur noch die Alternative. Tissy Bruns