: Innere Sicherheit: Handeln statt Denken
„Das Böse“ als Wahlkampfschlager: Im Vorfeld der Bundestagswahlen wird Kriminalität zum beherrschenden Thema gemacht ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Die Zeiten, in denen die CDU/CSU mit der Themenpalette „Ausländerproblem“ und „Asylanten“ ungeniert ihre Wahlkämpfe betreiben konnten, dürften der Vergangenheit angehören. Bei der Asylrechtsänderung ist mit dem „Kompromiß“ das erstrebte Ziel erreicht, und das Spiel mit xenophoben Stimmungen in der Bevölkerung erweist sich zunehmend als dysfunktional.
Die rund 1.500 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnungen von Immigranten sowie Dutzende von Todesopfern rechter Gewalt seit dem Fall der Mauer beschädigten auch die internationale Reputation der Christdemokraten. Schließlich herrscht in den politik- und sozialwissenschaftlichen Forschungen seltene Übereinstimmung, daß das rechtsradikale Coming-Out von Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft eng mit der Anti-Ausländerpolitik der letzten Jahre korrespondierte.
Auf der Suche nach neuen Aufgaben, bei deren Bewältigung die Christdemokraten Flagge zeigen und dem Wähler ihre Kompetenz andienen können, war man schnell fündig. „Der wachsenden Gewaltbereitschaft energisch begegnen!“, lautet der Slogan, mit dem sich die Unionsparteien seit Monaten in den Vordergrund spielen. Angesichts der erschreckenden Bilder aus ganz Deutschland kann gegen dieses Ansinnen kein vernünftiger Mensch etwas haben. Wissen doch spätestens seit dem Orakel des Ethnologen Hans-Peter Duerr in einem Hamburger Wochenmagazin alle: „Das Zivilisierungsprogramm der Menschheit ist gescheitert. Das Gewissen hat versagt.“
Wie die mittelalterliche Pest grassieren Gewalt und Kriminalität in unserer Gesellschaft – glauben viele. „Immer mehr ..., immer mehr ...“, lautet denn auch der Ohrwurm, der in Talkshows, Politikerrunden, Fachtagungen und Familiengesprächen intoniert wird. Längst hat er sich wie ein einschmeichelnder Gassenhauer in die Köpfe der Menschen festgefressen. Immer mehr Mißhandlungen von Kindern. Immer mehr Gewalt an den Schulen. Immer mehr Gewalt im Fernsehen. Immer mehr innerfamiliäre Gewalt. Immer mehr Verbrechen ...
Das Feld ist bereitet. Nicht die Wirtschaftskrise, nicht der mißlungene Zusammenschluß beider deutscher Staaten, nicht der Abbau des (Rest-) Sozialstaates fordert den inneren Frieden heraus, sondern Gewalt in seinen vielen Spielarten. Der an diesem Sonntag in Berlin beginnende CDU-Parteitag stellt das Thema „Kriminalität & Innere Sicherheit“ folgerichtig in den Vordergrund. Die Delegierten haben einen dicken Maßnahmekatalog in ihrem Marschgepäck, der Deutschland wieder in eine blühende Landschaft verwandeln soll: elektronische Wohnraumüberwachung; verdeckte Ermittler; Erweiterung der Möglichkeiten der Sicherungshaft; Verschärfung des Strafmaßes bei Gewaltstraftaten; Beschleunigung der Strafverfahren; Ergänzung des Versammlungsgesetzes um ein befristetes und räumlich begrenztes Demonstrationsverbot; Übertragung der Aufgabe der Vorfeld-Beobachtung von Organisierter Kriminalität auf den Verfassungsschutz; Ausweisung und Abschiebung straffälliger Ausländer; beschleunigter Aufbau des Verfassungsschutzes; finanzielle Verbesserungen für Polizeibeamte und Stellenanhebungen; Regelungen für den Unterbindungsgewahrsam; verstärkte Bestrafung krimineller Heranwachsender zwischen 18 und 21 Jahren nach dem Erwachsenenstrafrecht ...
Hier soll nicht Sinn und Unsinn jeder einzelnen avisierten Maßnahme diskutiert werden. So ist die Organisierte Kriminalität unbestreitbar eine Herausforderung. Und unstrittig ist auch, daß die bisherigen Fahndungsmethoden bei international operierenden und ethnisch homogen zusammengesetzten Syndikaten nur bedingt tauglich sind, daß neue Wege der Verbrechensbekämpfung beschritten werden müssen. Auch der Absicht, nach langer Phase der Paralyse zu erwachen und den Rechtsextremismus entschieden zu bekämpfen, kann nur zugestimmt werden.
Wo sich so viele in der Zustandsbeschreibung einig sind, mag die Behauptung, daß die überall vermutete Zunahme von Gewalt mehr Ideologie denn gesellschaftliche Realität ist, als Häresie ausgelegt werden. Aber die augenblickliche Endzeitstimmung erinnert doch sehr an die deutsche Befindlichkeit zu Zeiten des „Waldsterbens“ und der „Pershing II- Stationierung“ und der „Klimakatastrophe“.
Bei der Behauptung der unaufhaltsamen moralischen Talfahrt der bundesdeutschen Gesellschaft gerät allzu schnell in Vergessenheit, daß die Bundesdeutschen in den letzten 25 Jahren ungeahnte Sensibilitäten selbst gegenüber den „privatesten“ und ehedem tabuisierten Formen der körperlichen Gewalt entwickelt haben.
So waren in den siebziger Jahren die neu eröffneten Frauenhäuser nicht deshalb überfüllt, weil plötzlich viel mehr Männer als früher ihre Frauen verprügelten, sondern weil es endlich die Möglichkeit gab, dem innerfamiliären Terror zu entfliehen.
Auch die sexuelle Mißhandlung von Kindern hat – entgegen vielerorts vorherrschender Auffassung – in den letzten 20 Jahren nicht zugenommen. Und wenn Homosexuelle häufiger von gewalttätigen Übergriffen berichten, ist dies auch ein Indikator dafür, daß sie sich heute – anders als vor 25 Jahren – dazu bekennen können, Homosexuelle zu sein, ohne Gefahr zu laufen, strafrechtlich verfolgt zu werden.
Kein Täter kann sich mehr darauf berufen, Gewalt in der Partnerschaft, gegenüber Kindern oder Untergebenen sei eine Privatangelegenheit. Körperliche Gewalt und Züchtigung sind verpönt – selbstredend sind sie damit nicht aus der Welt geschafft. Für einen fundamentalen Kulturpessimisus besteht, bei allen Schlechtigkeiten, die es dennoch gibt, kein Anlaß.
Selbst die Jugendgeneration, der ein libidinöses Verhältnis zur Gewalt nachgesagt wird, straft die These vom allgemeinen Zivilisationsverlust Lüge. Schüler und Schülerinnen waren es, die in vielen Städten der Republik die Demonstrationen gegen Fremdenhaß und Rechtsextremisus organisierten – lange bevor sich die Eltern in eine der Lichterketten einreihten. Noch nie haben sich so viele Heranwachsende geweigert, sich in der Tötungsschule der Nation, der Bundeswehr, verformen zu lassen. Ihre Friedfertigkeit geht selbst gestandenen Altlinken zu weit. Die runzeln angesichts des massenhaften Pazifismus sorgenvoll ihre Stirn und bestehen darauf, daß nicht nur britische, französische, pakistanische und US-amerikanische Jünglinge, sondern auch bundesdeutsche bei den diversen UN- Einsätzen sterben sollten.
Ein Blick auf das sich zu Ende neigende 20. Jahrhundert oder in die Bücher Ödon von Horvaths und Heinrich Manns zeigt, daß die heutige Jugendgeneration mit zu den humansten, zivilisiertesten, friedfertigsten, konfliktfähigsten und weltoffensten Generationen gehört, die dieses Land jemals gesehen hat.
Selbst bei dem Dauerthema „Gewalt in der Schule“ ist die Faktenlage dünn. So kommt der Bielefelder Kindheits- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann nach einer vergleichenden Analyse vorliegender Untersuchungen zu dem Fazit: „Bislang gibt es keine wissenschaftlich abgesicherten Belege dafür, daß wir tatsächlich auf breiter Front mit einer Zunahme von aggressiven und gewaltförmigen Handlungen in der Schule zu tun haben.“ Allenfalls eine Veränderung der Schärfe von Gewalthandlungen bei einer Minderheit der Kinder und Jugendlichen ließe sich feststellen. Und noch etwas eruierte Hurrelmann: Die Häufigkeit gewalttätiger „Aktionen“ nimmt mit der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und der Abscheu gegenüber der Schule zu.
Damit wird auf eine alte Erkenntnis hingewiesen, die es immer wieder ins Gedächtnis zurückzuholen gilt: Der Entstehung von Kriminalität und Gewalt liegen soziale Faktoren zugrunde. Nicht der Koeffizient körperliche Gewalt hat zugenommen, sondern die Zahl der Arbeitslosen in Ost und West sowie die Dauer der Arbeitslosigkeit. Zugenommen hat im unteren Drittel der Gesellschaft die Wohnungsnot, die Obdachlosigkeit. Zugenommen hat die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben müssen. Abgenommen hat der Anteil der Studierenden an (west)deutschen Universitäten aus niedrigen sozialen Schichten – von 23 Prozent im Jahr 1982 auf 15 Prozent zehn Jahre später.
Zugenommen hat die Zahl sozial verwahrloster Kinder. Obgleich die Faktenlage bei der Hardware sehr viel eindeutiger als bei der nebligen Diskussion um körperliche oder jugendliche Gewalt ist, wird der Diskussion um die Entwicklung der sozialen Grundkomponenten nicht annäherend eine vergleichbare Aufmerksamkeit geschenkt. Es drängt sich der Verdacht auf, daß die Mehrheit der „Alten“ längst jegliche Hoffnung aufgegeben hat, jemals noch grundlegend in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse einzugreifen. Mit der eindeutigen und eifernden Verurteilung unmittelbar körperlicher Gewalt bei gleichzeitiger Hilflosigkeit und Desinteresse gegenüber strukturellen Formen der Gewalt hat die Projektion Hochkonjunktur – und der Ruf nach der harten, strafenden Hand.
Helmut Kohl signalisierte in seiner Regierungserklärung vom 18.Juni dieses Jahres all jenen seine Unterstützung, die genug vom Denken haben und zuschlagen möchten: „Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß keine noch so gründliche soziologische oder psychologische Analyse die Realität des Bösen wirklich erfassen kann; es gibt Situationen, in denen an unnachsichtiger Bestrafung und entschlossener Abschreckung kein Weg vorbeiführt.“
Alles deutet darauf hin, daß die CDU die Themen „Innere Sicherheit und Gewalt“ in nächster Zukunft ähnlich strapazieren und dramatisieren wird wie einst die Asyldebatte. In dieser Zeit wogender Emotionen wird dann nur noch wenig Zeit und Energie bleiben, um sich Gedanken über die sozialpolitischen Grundlagen des Zusammenlebens zu machen.
Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Gewalt dramatisch zugenommen hat, ist es die rechts motivierte. Seit Mitte der achtziger Jahre haben sich die registrierten fremdenfeindlichen Übergriffe um nicht weniger als das Dreißigfache erhöht. Auch die CDU nimmt nach langem Zögern diese innenpolitische Bedrohung ernst und verspricht, nun nicht mehr nur entschieden gegen die extreme Linke vorzugehen. Aber wenn Innenminister Kanther als eine der wichtigsten Maßnahmen einfällt, den Verfassungsschutz in die Lage zu versetzen, durch Abhörmaßnahmen die Planung von Wehrsportgruppen als kriminelle Vereinigung und als Vorbereitung zum Rassenhaß aufzudecken, läßt das nichts Gutes erwarten.
Tatsächlich wird die „Bekämpfung der Gewalt und des Extremismus“ zum Scharnier, um all die Begehrlichkeiten zu erfüllen, die ordnungspolitische Hardliner der Union immer schon hatten. Kohls oben zitierte Aufforderung „Handeln statt Denken“ zielt direkt auf eine Aushebelung des Jugendstrafrechts. Heranwachsende zwischen 18 und 21 sollen, so auch der Fraktionsgeschäftsführer der CDU/CSU, Jürgen Rüttgers, zur vollen strafrechtlichen Verantwortung herangezogen werden. Dazu Jürgen Rüttgers: „Es kann nicht angehen, daß man als 18- bis 21jähriger Millionenverträge abschließen kann, bei Straftaten aber nach dem Jugendstrafrecht behandelt wird.“
Zu Recht ist innerhalb der Partei umstritten, ob das der richtige Hebel sei, um den wachsenden Rechtsextremismus zu stoppen. Schließlich liegen die Ursachen der wachsenden Ausländerfeindlichkeit nicht in einem zu liberalen Strafrecht, sondern in einem Bündel von Komponenten, die mehr erfordern als harte (Richter-) Sprüche.
Ebenso wenig sind für die Ereignisse in Rostock, Eberswalde, Hoyerswerda und anderswo Datenschutzregelungen verantwortlich, die polizeiliches Handeln erschwerten, noch Gerichte, die zu lasche Strafen aussprachen; auch die personelle Aufrüstung der Polizei und des Verfassungsschutzes hatten damit wenig zu tun. Es fehlte schlicht am politischen Willen, die zur Verfügung stehenden Mittel entsprechend einzusetzen.
Die CDU hat es bislang bei der Bekämpfung des Rechtsradikalismus an notwendiger Sachkompetenz fehlen lassen. Wenn sie immer wieder auf die Bedeutung des Verfassungsschutzes bei dieser Aufgabe verweist, unterstreicht sie diesen Eindruck erneut. Hat dieser doch vor wenigen Tagen mit „Verfassungsschutzbericht '92“ den letzten Beweis einer Inkompetenz geliefert. Was da an neuesten Erkenntnissen über Größe, Bedeutung, Vernetzung und Gefährlichkeit der rechten Szene verkauft wird, ist abgestandener Kaffee – Erkenntnisse, die seit Jahren zur Allgemeinbildung der interessierten Öffentlichkeit gehören.
Daß dem Rechtsterrorismus mehr entgegengesetzt werden muß als in der Vergangenheit, ist sicherlich Konsens. Daß bei der Analyse und Einschätzung dieser Gefahr die Positionen auseinandergehen, gehört sich für eine Streitkultur. Wenn allerdings, wie seit geraumer Zeit, die (Neo-) Konservativen die „Konfliktpädagogik“ für den Rechtsruck der bundesdeutschen Gesellschaft verantwortlich machen, gleichzeitig aber institutionalisierte Formen von Ungleichheit und Rassismus in der Bundesrepublik bestreiten und psychologische und soziologische Anstrengungen als ineffektiv gegen „das Böse“ bezeichnen, wird es nicht nur grotesk. Und wenn Kohl ein „Höchstmaß nationaler Gemeinsamkeit“ im Kampf gegen die Bedrohung durch den Terror politischer Extremisten einklagt, wird da wieder die Schicksalsgemeinschaft beschworen, die, wenn sie in Aktion tritt, noch nie etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt hat.
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