Gentherapie vor dem Durchbruch

Die Manipulation des menschlichen Erbguts steht jetzt auch in der Bundesrepublik auf dem Plan / In Freiburg soll in den nächsten Monaten ein erstes Experiment mit 14 Patienten starten  ■ Von Ludger Weß

Gentechnische Eingriffe in die Natur beschränken sich längst nicht mehr nur auf Pflanzen und Tiere. Unter der Bezeichnung „Gentherapie“ wird seit geraumer Zeit versucht, die genetische Manipulation des Menschen als eine neue therapeutische Methode in die Medizin einzugliedern. Laut einer ZDF-Umfrage von 1989 unter deutschen Chefärzten und Medizinprofessoren sind die meisten davon überzeugt, daß die Gentherapie die Medizin bis zur Jahrtausendwende sehr stark verändern werde. Lediglich genetische Diagnostik und Altersheilkunde werden als bedeutender eingeschätzt.

Nach den ersten ernstzunehmenden Versuchen in den USA vor drei Jahren sind dort mittlerweile über 20 Menschen mit gentechnisch veränderten Zellen oder Viren behandelt worden; chinesische, italienische und niederländische Forschungsteams sind jetzt dabei, diesen Forschungsvorsprung aufzuholen.

Auch die deutsche Forschung dürfe „angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung auf diesem Gebiet“ nicht abseits stehen, so der Gesundheitsminister Horst Seehofer. In seinem Ministerium ist daher im Mai eine Arbeitsgruppe Gentherapie eingerichtet worden, und ein Projekt des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zur Evaluierung der Gentherapie steht kurz vor der Veröffentlichung. Forschungsteams in Bonn, Berlin, Hamburg, München und Freiburg sowie bei den Pharmakonzernen Bayer und Boehringer Ingelheim stehen in den Startlöchern.

Damit hat sich die Einstellung von Medizin und Politik innerhalb kurzer Zeit drastisch geändert. Als vor 13 Jahren der US-amerikanische Mediziner Martin Cline an italienischen und israelischen Kliniken erstmals eine genetische Manipulation am Menschen versuchte, erntete er massiven Protest in der „scientific community“ und verlor seine Stelle in den USA. Sein Experiment, bei dem er Patienten mit einem fehlerhaften Gen für den roten Blutfarbstoff (Thalassämie) das normale Gen einzusetzen versuchte, wurde von Kollegen damals einhellig als unausgereift und riskant verurteilt, weil es zuvor nicht im Tierversuch ausreichend auf seine Wirksamkeit und Gefahrlosigkeit untersucht worden war.

Die Enquetekommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ kam 1987 – nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Cline-Affäre – zu der Auffassung, daß eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Voraussetzungen für einen verantwortlichen Gentherapieversuch noch nicht vorhanden sei. Sind diese Voraussetzungen durch neue Studien und Erkenntnisse inzwischen gegeben? Zunächst bleibt festzuhalten, daß sich sämtliche Voraussagen aus den 80er Jahren über die Anfänge der Gentherapie aufgrund unerwarteter methodischer Probleme als unzutreffend erwiesen haben. Galten früher erbliche Krankheiten, die ihren Ausgang von genetischen Defekten der blutbildenden Stammzellen nehmen, als wahrscheinlichste Kandidaten für eine erfolgreiche Gentherapie – diese Zellen lassen sich nämlich außerhalb des menschlichen Körpers leicht vermehren –, so hat sich inzwischen herausgestellt, daß das Einschleusen neuer Gene und deren erfolgreiche Aktivierung bei diesen Zellen sehr schwer zu bewältigen ist.

Bisher ist es nur einer niederländischen Arbeitsgruppe gelungen, Rhesusaffen ein Gen so in die blutbildenden Zellen des Knochenmarks zu integrieren, daß es dort seit über einem Jahr das gewünschte Eiweiß produziert. In allen anderen Fällen muß die Übertragung der manipulierten Zellen nach einiger Zeit wiederholt werden, da diese nur vorübergehend funktionieren. Daher haben sich die Gentherapie-Arbeitsgruppen mittlerweile mehr auf Versuche an bereits ausgereiften Körperzellen verlegt. Ein Beispiel für die dabei auftretenden Schwierigkeiten bietet ein erblicher Leberdefekt, bei dem die Betroffenen schon in jugendlichem Alter von Herzinfarkt, Arteriosklerose und Schlaganfall bedroht sind. Ihren Leberzellen fehlt der genetische Bauplan für die sogenannten LDL-Rezeptoren, so daß die Leber einige Fette nicht aus dem Blut entfernen kann. Ein gentherapeutischer Heilversuch wird zur Zeit im Berliner Max-Delbruck-Zentrum vorbereitet.

Das entsprechende Gen läßt sich allerdings nicht so einfach übertragen: Retroviren kann man das Rezeptor-Gen zwar relativ leicht einbauen, aber sie infizieren nur sich teilende Zellen; bringt man die teilungsunwilligen Leberzellen mittels methodischer Tricks doch zur Vermehrung, verlieren sie ihre hochspezifische Funktion. Manipuliert man das Gen mit anderen Methoden in die Leberzellen hinein, erhält man zwar tatsächlich genetisch veränderte Zellen, aber die Veränderung ist nur vorübergehend. Sie ließe sich, so wird in den USA spekuliert, vielleicht dadurch stabilisieren, daß man den Betroffenen zwei Drittel ihrer Leber entfernt – in der Hoffnung, die Zellen dadurch zur Teilung anzuregen, bei der dann eine stabile Integration des übertragenen Gens in das Erbgut der Leberzelle stattfindet. Völlig offen ist allerdings auch noch die Frage, ob das Gen dann tatsächlich auch benutzt wird und ob die dann plötzlich in der Leber auftauchenden LDL-Rezeptoren nicht Abstoßungsreaktionen des Immunsystems provozieren. Angesichts dieser Unwägbarkeiten sind die Voraussetzungen für einen Therapieversuch nicht erfüllt; sie liegen sogar noch in weiter Ferne.

Ein Experiment anderen Typs soll noch im Herbst dieses Jahres in Freiburg an 14 Krebskranken vorgenommen werden. Hier handelt es sich jedoch nicht um eine Gentherapie im eigentlichen Sinn, denn es soll kein fehlerhaftes Gen ersetzt werden. Das Experiment gehört zu einem relativ neuen Ansatz der menschlichen Genmanipulation, bei dem Körperzellen gentechnisch markiert werden, um ihr Schicksal im Körper verfolgen zu können oder um dem Immunsystem oder der Chemotherapie neue Angriffspunkte im Körper zu verschaffen.

In Freiburg will man durch Einbau des Gens für das Bluthormon Interleukin-2 in menschliche Bindegewebszellen das Immunsystem gegen Tumore aktivieren – eine Art Impfung, die die Zerstörung des Krebsgewebes einleiten soll. Wie sich das mit den genmanipulierten Zellen eingeschleuste Interleukin-2 im Körper verhalten wird, ist dabei nicht voraussehbar; die medikamentöse Gabe dieses Stoffes führt jedenfalls bislang noch immer zu gravierenden Nebenwirkungen. Zwar gibt es Tierversuche, aber die Ergebnisse sind, so räumen die Freiburger Forscher selbst ein, nicht ohne weiteres auf den Menschen zu übertragen. Dennoch liegt eine Genehmigung zur Durchführung des Versuchs bereits vor.

Da es sich hier aber nicht einmal um eine tatsächliche Kausaltherapie, sondern um die Erprobung einer neuen Symptombehandlung handelt, wären angesichts der gravierenden Risiken noch strengere Maßstäbe anzulegen als an die echten gentherapeutischen Versuche.

Das aber ist politisch offensichtlich nicht gewollt. Die Bundesregierung setzt sich – das belegen ihre Antworten auf eine Anfrage der PDS-Abgeordneten Ursula Fischer – über alle Bedenken und Empfehlungen der Bundestagskommissionen der letzten Jahre hinweg, obwohl sich am Erkenntnisstand über die zentralen wissenschaftlichen Probleme und gesundheitlichen Risiken nichts geändert hat. Es geht, das belegt auch die flankierende Anzeigenkampagne „Pro Gentechnik“, um wissenschaftliches Prestige und den „Forschungsstandort Deutschland“. Die Patienten, meist unheilbar krank und bereit, zu jedem vermeintlich rettenden Strohhalm zu greifen, verkommen dabei zum Spielball eben dieser Politik.