: Aufbruch der Gips-Frauen
■ „Identität“, eine Ausstellung über Fremdheitsgefühl und Heimat
Fahr in die Fremde Freund und erkenne die Heimat. Da vom Tor zur Welt gen Amerika andere Identitäten warten, stört es kaum, daß stromauf eine Grenze 40 Jahre den Horizont verschloß. Allein Vögel und die Eisschollen einer gescheiterten Hoffnung bestimmten das Grenzland am Fluß, das Lili Fischer 1984 abbildete. Doch nun im vereinten Deutschland stellt sich die Identitätssuche noch viel schwieriger dar, als überhaupt nur je gedacht.
Von einem halbjährigen Lehrauftrag in Santiago de Chile zurückgekehrt fragte sich der Hamburger Ausstellungsmacher Wilhelm Bschor, was denn da für seltsame neue Vorstellungsbilder ihm das eigene Land fremd machten. Er ging nach dem Kultur-Austausch mit Chile auf die Suche nach einer künstlerischen Ortsbestimmung in seiner Heimatstadt und deren „Schwesterstadt“ Dresden. Es ist bezeichnend für den neuen genaueren Blick, daß er hier wie da unter den zwölf KünstlerInnen (neben den alt- und neudeutschen) auch die exilierten, kulturell vagabundierenden Künstler gefunden hat.
Denn ein festes Haus ist dieses Land wohl nimmermehr. Ruinen schon eher, zur Besichtigung freigegeben mittels Video, Schritte im Labyrinth der städtischen Versorgungsrohre, mit Steinbruch-stücken nach termitenart zielgerichtet inszeniert: das bleibt für Juan Leon, der mit seinem Vater vor Pinochet nach Dresden floh, die Erinnerung an den Tag der Vereinigung.
Marat ermorden, sich selbst in die Zinkwanne legen und diktaturbefreit im Traum über die endlosen Seen segeln..., doch gebrochen und todgeweiht vertrocknet der Aufbruch der gipsernen Frauen von Thea Richter. Post wird sortiert, gleich ob guter oder böser Mär, das Brot ist auf hohe Stangen gehängt und seine Formen vermauern die Fenster (Sándor Dóró). Wird es Kampf geben in der Nacht? In Jugoslawien ist schon längst alles zu spät und der Renaissance-Park von Tresteno bei Dubrovnik verbrannt: ein trotzig-trauriges Memorial von Jadranko Rebec gegen gezielte Vernichtung geschichtlich gewachsener Identität.
Nein, die Gewißheiten sind verloren und die verwirrte Verwunderung steigert sich angesichts überlebensgroßer Jacken. Zeigt Jutta Konjer des Kaisers und seines geringsten Dieners neue Kleider? Die präzise verschmitzten Sinnfallen des zwischen Tel Aviv und Hamburg pendelnden Zvika Kantor geben sich als feste Stellen und doch sind auch sie in der Bedeutung kaum zu fassen. Und die Weisheit Asiens, Versprechen ganzer Generationen von Sinnsuchern erreicht uns nur noch als TV-Menue. Wirklich gelebte Kultur ist irgendwo auf den medialen Wegen beiläufig verloren worden; Dong-Sik Rim vermißt, nach Korea zurückgekehrt, die alten bäuerlichen Traditionen seiner Jugend, ein Verlust nicht nur dort.
Verlorene Identitäten, Aspekte des Seins in den Neunzigern, aber Visionen nirgends. Doch schwanger und auf sanfte Weise trotzig setzt Maja Nagel dagegen die weibliche Natur: Zeichnungen, menstruationsblutig, Mutterboden auf dem Zement und eine Öffnung zum Wasser und zum Licht... doch gewahrt es wohl, es ist nur ein Industrie-Kanal und es regnet.
Hajo Schiff
“Identität“, Speicherstadt, Block W, Dienerreihe 2, noch bis 26. September.
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