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■ Der langsame Tod des Homo sovieticusDino „Sowok“

Nach der Perestroika entstand im Russischen ein neues Schimpfwort: Sowok. So nennt man die „Sowjetleute“, die Menschen kommunistischer Prägung. „Die Erziehung des Neuen Menschen“ war einst eine der vordringlichsten Aufgaben der Bolschewiken gewesen. So sollte eine neue Menschengattung der „standhaften, gebildeten und arbeitsamen Erbauer des Kommunismus“ (Lenin) gezüchtet werden. Fast ausnahmslos alle jungen Sowjetbürger genossen diese Erziehung – zuerst in der Organisation der „Oktoberkinder“, dann der „Pioniere“ und endlich im „Komsomol“, der „Kampfreserve der KPdSU“, wie ihn Stalin nannte. Dort entstand auch tatsächlich ein neuer Menschentypus: der Homo sovieticus.

Doch heute, nach siebzig Jahren Kommunismus, ist dieser neue Mensch alt und grau geworden. Sein ganzes Leben lang sorgten der sowjetische Staat und seine Führer im Politbüro für ihn. Jossif Stalin ernährte die Sowjetmenschen wie der biblische Joseph die Juden. Oder der Erfinder der dialektisch- materialistischen Vererbungslehre, der Agrarbiologe Lyssenko: Er versprach den Sowjetmenschen gigantisches Getreide und überlebensgroße Tomatenbäume. In diese schönen Träume der wissenschaftlichen Ideologie vertieft, merkte der bejahrte Neue Mensch nicht, daß sich die Welt um ihn herum radikal verändert hatte.

Boris Jelzin ist der Rolle des „Vaters des Volkes“ offensichtlich nicht gewachsen. So bleibt der Homo sovieticus völlig verwahrlost zurück. Frustriert und verständnislos beobachtet er den Tätigkeitsdrang und die Unternehmungslust der jüngeren Generation. Die behandeln ihn herablassend als Sowok – was unter anderem auch „Kehrschaufel“ bedeutet.

Der Generationenkonflikt bringt immer weniger Altkommunisten auf die Straße. Sie haben jetzt etwas Besseres zu tun – sie sehen fern. Seit zwei Jahren kommt das ganze Leben im Lande regelmäßig zum Stillstand, weil eine endlose mexikanische Seifenoper namens „Auch die Reichen weinen“ gezeigt wird. „Ich bin zu alt und werde nicht bis zum Ende der Serien leben“, schrieb ein Zuschauer an die Fernsehanstalt. „Seien Sie barmherzig! Lassen Sie mich in Frieden sterben, und erzählen Sie mir, wie die Geschichte endet.“ Während eines Rundfunkinterviews mit den Fernsehleuten, die den Film gekauft hatten, rief eine Zuhörerin an und sagte: „Man redet immer, die Lage sei schwierig, die Rentner können sich sogar Wurst nicht mehr leisten – aber wir brauchen keine Wurst! Nur, daß die Serien weitergehen.“ Eine typische Sowok-Aussage. Das Wort „Wurst“ soll hier rein metaphorisch verstanden werden. Was die Wurst und andere Grundnahrungsmittel angeht, können sich die Rentner sogar etwas mehr kaufen als zu Sowjetzeiten. Gleichzeitig ist aber die Auswahl bedeutend größer geworden, und so können sie sich nur wenig von der neuen Ware leisten. Solche Ungleichheit beleidigt die Sowjetmenschen, die bekanntlich alle gleich waren und nur den wenigen erlaubten, noch gleicher als die anderen zu sein.

Aus der Welt, wo die Reichen über ihn lachen, flieht der Sowok in eine andere, wo die Reichen weinen. Noch während der Perestroika hatte man erstmals eine Seifenoper gezeigt, die brasilianische „Sklavin Isaura“ in dreißig Teilen. Damals scherzte man bitter, sowjetische Zuschauer seien selbst zu Sklaven der Isaura geworden. Das richtige Rezept der sozialen Versöhnung scheint gefunden zu sein: das ehemalige sowjetische Fernsehen kaufte gleich noch 23 Seifenopern mit je 30 Episoden. Die freigelassenen Sklaven des Politbüros, diese standhaften Erbauer des Kommunismus, werden an den Bildschirm gefesselt sein, während die Jugend den Kapitalismus aufbaut.

Es scheint paradox, aber den Weg zur Marktwirtschaft schlugen als erste die ehemaligen Führer des Komsomol ein. Noch vor vier Jahren organisierten diese jungen Propagandisten des Marxismus-Leninismus die ersten Kooperativen, die mittlerweile zu den größten Konzernen und Börsen zählen. Nach vielen Versprechen, bald den Kommunismus oder zumindest den Sozialismus mit menschlichem Gesicht aufzubauen, hatte das Politbüro unter Leitung Gorbatschows das Land zum Kapitalismus mit sozialistischem Antlitz geführt. Die ehemalige kommunistische Elite bleibt nach wie vor im Sattel, aber propagiert jetzt kapitalistische Werte. Kommunisten werden Millionäre. Die Reichen werden reicher, und die Armen glauben immer noch, daß die Reichen auch weinen.

Rußland befolgt nicht mehr die Lehre von Karl Marx. Der Theoretiker der Revolution ist out. Eine Evolution – wie sie noch Charles Robert Darwin definiert hatte – bestimmt jetzt die Lage. Der frühkapitalistische Existenzkampf sorgt – wie der Darwinsche Kampf ums Dasein – für die sogenannte „natürliche Auslese“ und folglich für die Entwicklung neuer Arten. So entstand im postsowjetischen Areal eine neue Gattung Mensch: die Neureichen, von den englischsprachigen Medien sehr treffend new russians genannt. Sie glauben weder an Gott noch an den Teufel (und an Marx sowieso nicht) und bleiben nur einem Prinzip treu: dem des survival of the fittest. Evolutionstheoretisch meint dies Überleben derjenigen Individuen, die sich am besten der jeweiligen Umwelt anpassen können. Früher besaß der Homo sovieticus durchaus diese „absolute adaptive Überlegenheit“. Alle seine Gegner saßen im Gulag. Die ganze Welt zitterte vor seinem KGB und seiner Roten Armee. Jetzt aber sind sogar sie nicht mehr imstande, den Sowok auch in seinem eigenen Lebensareal vor den neuen aggressiven Konkurrenten zu schützen. Die „Neuen Russen“ „evolutionieren“ viel zu rapide. Ursprünglich waren es nur die Jungs in chinesischen Daunenjacken und türkischen adidas- Sportanzügen, Schwarzhändler und Schieber. Bald aber trugen sie schon Lederjacken mit Jeans und gründeten eigene Firmen. Das war für Gorbatschow das letzte Jahr – und wohl auch der letzte Moment, wo sich der Sowjetmensch noch hätte retten können. Aber nach dem Putschversuch vor zwei Jahren wurden sogar seine ehemaligen Führer zu Konkurrenten. Es entstand eine neue Elite, die von ihren beiden Vorfahren – der Nomenklatura und der Mafia – die besten Eigenschaften erbte.

Dies macht sie unschlagbar. Die neueste Ausprägung des „Neuen Russen“ erkennt man an schicken Autos und italienischen Modellanzügen. Im Kampf mit ihnen hat der Homo sovieticus keine Chance. Da bleibt ihm nicht viel anderes übrig als eine Flucht in die imaginäre Welt der unendlichen Fernsehserien, wo nicht nur die Armen zu weinen haben.

So hat sich der Sowjetmensch, künstliches Produkt der bolschewistischen Ideologie, nach all diesen Jahren als doch nicht lebensfähig erwiesen. Jetzt stirbt er, der so harmlos gewordene Sowok, aus wie einst die Dinosaurier. Der Homo sovieticus wurde von einer cleveren und skrupelloseren Spezies vertrieben: dem Homo sapiens. Boris Schumatsky

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