: Konsequenzen aus Sarajevo
■ Das Ende der Welt
Eine Welt ohne den Osten, ohne den Westen.
Die Einwohner von Sarajevo haben viele gute Gründe, sich gegenwärtig für die Weltpolitik zu interessieren – solange sie noch Zeit haben. Nirgendwo sonst sind menschliches Leben und menschliche Zeit so billig, so wenig geachtet. Der Rest der Welt sollte nicht versuchen, die Analyse zu ignorieren, die sie anbieten, denn sie sind ein Volk, das schon mit einem Fuß im Grab steht ...
Als die Russen in Prag einmarschierten, zeigten die Tschechen, die Widerstand leisteten, ihren Sinn für Humor, indem sie sich über Winnetou als die „letzte gute Rothaut“ lustig machten. – Wer bot uns die Rolle des „letzten guten Bleichgesichtes“ an, als die Volksarmee Ex-Jugoslawiens in Bosnien-Herzegowina einrückte, nachdem die Truppen aus Slowenien und Kroatien abgezogen worden waren? Sarajevo, eingekreist, von allen telefonischen und emotionalen Kommunikationslinien abgeschnitten, glaubt nun, daß das „gute Bleichgesicht“ nicht mehr als eine Fiktion war und daß die Welt definitiv glücklicher wäre, wenn sie sähe, wie dieses Land und diese Stadt von der Oberfläche des Planeten getilgt würden.
Die Enttäuschung war bitter, fast so schmerzvoll wie der Verlust von Vätern, Müttern, Brüdern, von den eineinhalbtausend Kindern, die durch Karadžićs Geschosse getötet wurden. Diese Enttäuschung ist so bitter, so schmerzvoll, daß die Einwohner von Sarajevo sich vor allem anderem schon darüber bewußt sind, daß die Welt, die uns am Ende dieses Krieges erwartet, eine Welt ohne moralische Werte sein wird – ganz gleich, ob dies die Werte der Heiligen Schriften der großen Religionen sind oder diejenigen, die sich im Schrein der Charta der Vereinten Nationen befinden.
Dies Urteil mag äußerst hart erscheinen, aber nur für diejenigen, die nicht gesehen haben, wie ein Geschoß zehn Schritte entfernt einschlägt und einen Vater tötet, der mit seiner Tochter das Haus verlassen hat, und die Tochter fällt auf seinen Körper und ruft weinend: „Vater, Vater ...“ Die Tochter ist vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt: Sie wird dieses Bild ein halbes Jahrhundert in ihrem Gedächtnis mit sich herumschleppen, vielleicht sogar bis zum Ende ihres Lebens. – Vorausgesetzt natürlich, daß sie diese Belagerung überlebt.
Die Enttäuschung wird von Erstaunen begleitet: Was ist mit den Ländern passiert, die immer so stolz von den Menschenrechten sprachen, und die plötzlich vergessen haben, daß das Recht auf Leben Grundlage aller anderen Rechte ist?
Bestimmte Radikale möchten den Diskurs über Menschenrechte in einen Zusammenhang stellen, der von politischer Manipulation und Gehirnwäsche geprägt ist und sich an ein naives Publikum richtet. Andere, die eine Vorliebe für historische Erklärungen haben, graben alte Landkarten des Balkans aus und durchforschen sie nach Spuren von Interessenszonen.
Schließlich gibt es noch diejenigen, die konstatieren, daß das Verschwinden Osteuropas auch den Westen zum Verschwinden verurteilt habe. Andere merken an, daß Bosnien-Herzegowina geographisch auf der Linie liegt, die die westlichen und östlichen Teile des Römischen Imperiums voneinander trennte und in jüngster Vergangenheit die Grenze zwischen den Interessenszonen Rußlands und der Westmächte markierte. Diese Beobachtungen, geäußert in einem Schutzraum während eines Bombenangriffes oder in Cafés während der kurzen Momente trügerischer Ruhe, zeigen die geschärfte Empfindsamkeit der Menschen unseres Landes.
„Mit dem Verschwinden des Warschauer Paktes und der UdSSR“, so ein emeritierter Soziologieprofessor, „hat der Westen einen wichtigen militärischen und politischen Rivalen verloren. Dies hat seinen Geist und seine Stärke, die auf dem Prinzip der Konkurrenz basierten, noch gefährlicher gemacht. Alle politischen Mechanismen funktionieren so weiter, als ob der große Feind immer noch vor der Tür stünde.“
Ein Ingenieur, der zur Zeit in der Abteilung für Zivile Verteidigung arbeitet, ist der Meinung, daß der Krieg in Bosnien bereits nach zwei Wochen vorbei gewesen wäre, wenn die beiden Supermächte zu diesem Zeitpunkt noch existiert hätten: „Aus Angst, gegenüber dem anderen Block an Einfluß zu verlieren, hätte der Westen eine Reihe klarer Drohungen ausgestoßen, und Milošević wäre gezwungen gewesen, seine Truppen zurückzuziehen. Dann wäre uns das alles erspart geblieben.“
In Sarajevo gibt es nicht viele Freunde der Russen – sie sind zahlreicher auf der anderen Seite der Feuerlinie. Sogar unsere linken Parteien rutschten keineswegs vor dem Kreml auf den Knien. Entsprechend können diese Verweise auf die UdSSR kaum als Nostalgie für die „guten alten Tage“ interpretiert werden. Sie sind vielmehr ein Hinweis darauf, daß die Leute hier realisieren, daß der Westen nicht dem Bild entspricht, das er von sich selbst aufgebaut hatte, und welches wir selbst nur allzu gerne auf ihn projizierten. Das bestärkt sie darin, diesen Wandel zu erklären, indem sie sich auf die letzte große historische Umwälzung beziehen, den Zerfall des Sowjetblockes.
Solange es zwei unabhängige Feuerwehrmannschaften gab, war jede von beiden darauf bedacht, das Feuer vor der Ankunft der anderen zu löschen. Nun kann das Feuer wüten, und die Feuerwehrleute kommen erst dann, wenn bereits alles niedergebrannt ist – gerade noch rechtzeitig, um die schwelende Asche zu begutachten. Viele der Einwohner von Sarajevo erwarten nicht, die Feuerwehrleute zu sehen, bevor nicht ganz Bosnien bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist.
Das Verhalten der internationalen Gemeinschaft angesichts der Tragödie in Bosnien hat alle unsere bestehenden Vorstellungen von der Welt, von Europa und unseren Nachbarn umgeworfen. Die Bosnier hatten gehofft, daß die Schaffung einer mächtigen Europäischen Gemeinschaft auch zum Wohle der Nachbarn sein würde. Nun haben sie bereits Zweifel über die Zukunft der Gemeinschaft und fragen sich, ob diese Probleme nicht schneller hätten gelöst werden können, wenn die geostrategische Situation unverändert geblieben, oder der Westen zumindest besser auf diese großen Umwälzungen vorbereitet gewesen wäre.
Aber die Dinge sind so, wie sie sind: Jeder Staat versucht, seine eigenen Probleme zu lösen und sich auf diejenigen vorzubereiten, die noch kommen werden.
Währenddessen geht der Beschuß von Sarajevo weiter. Die Heckenschützen und Raketenwerfer, die auf den umliegenden Hügeln postiert sind, haben Begräbnisse auf dem alten Friedhof unmöglich gemacht. Währenddessen bedeckt der neue, der letztes Jahr angelegt wurde, bereits ein Areal von zwei Hektar, erstreckt sich über ein Fußballfeld und erreicht mittlerweile das verwüstete Sportzentrum und das Stadion, wo erst vor ein paar Jahren – auch wenn es uns wie Jahrhunderte erscheint – Samaranch die Olympischen Spiele eröffnete.
Hamža Bakšić
(Übersetzung: Bettina Bremme)
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