: Oslobodjenje und Sarajewo
■ Mehr als eine Zeitung
Neulich las ich in einem der vielen Texte, die bis heute in der internationalen Presse über Oslobodjenje veröffentlicht wurden, folgende Stellungnahme: „Eine kleine Zeitung in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, von der gestern noch nie jemand etwas gehört hatte und die im Kontext des weltweiten Journalismus als recht unbedeutend angesehen wurde, ist heute zum Symbol des Kampfes für Informations- und Pressefreiheit im allgemeinen geworden ...“
Im belagerten Sarajevo selbst hatte, zu einem Zeitpunkt, als die jüngste Entwicklung der Situation in Bosnien-Herzegowina kaum vorausgesehen werden konnte, Larry Longenhvort, einer der führenden Vertreter des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), beobachtet, daß für viele Menschen in der belagerten Stadt Oslobodjenje „viel mehr ist als bloß eine Zeitung“ ist. Die Richtigkeit dieser Bemerkung ist mittlerweile sowohl von Gegnern als auch von treuen Lesern anerkannt.
Nach zweieinhalb Jahren Krieg ist es schwierig, die Zukunft einer Zeitung vorauszusagen, die unter unmöglichen Bedingungen aus einer Ruine heraus produziert wird. Fest steht, daß der Name von Oslobodjenje sich in die Geschichte des Journalismus als ein ehrenvolles Beispiel davon, was unter derartigen Bedingungen möglich ist, einschreiben wird.
Es gibt drei essentielle Gründe, warum Oslobodjenje in dem Leben des belagerten Sarajevo eine unschätzbare Rolle spielt. Zunächst hat die Zeitung ihre Hauptfunktion, nämlich die, die Bevölkerung darüber zu informieren, was in Sarajevo, in Bosnien-Herzegowina, in Ex-Jugoslawien und weltweit passiert, erfüllt – und dies gemeinsam mit allen außerhalb der Stadt, die mit Oslobodjenje in Verbindung stehen. Ohne Elektrizität, ohne Radio und Fernsehen ist Oslobodjenje oft die einzige Informationsquelle für die Bevölkerung Sarajevos. Die Nachrichten, die abgedruckt werden, sind um so wichtiger, als es der Zeitung trotz des Wahnsinns ringsum gelungen ist, ihre Unabhängigkeit zu erhalten.
Der zweite Grund für die Einzigartigkeit von Oslobodjenje ist die Art, wie die Zeitung produziert wird: Nur fünfzig Meter von der Frontlinie entfernt, in einem Gebäude, das nur noch eine Ruine ist. Ständig gibt es Angriffe und Bombardements, die Kommunikationslinien brechen zusammen, es gibt keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung. Doch die Journalisten von Oslobodjenje sind zum Vorbild des Widerstands geworden. Sie haben gezeigt, daß die Aggressoren ihr Hauptziel, nämlich das Leben in der belagerten Stadt zum Stillstand zu bringen, nicht erreichen können. Die Existenz von Oslobodjenje demonstriert unwiderlegbar, daß in Sarajevo das Leben stärker ist als der Tod. In psychologischer Hinsicht ist das ein großer Sieg für die Bevölkerung und eine bedeutende Niederlage für die Belagerer.
Schließlich – und dies ist das Wichtigste – bestand während des ganzen Krieges die Belegschaft der Zeitung aus Journalisten verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft: Muslime, Serben und Kroaten haben zusammengearbeitet. Ihre Professionalität ist stärker als die nationalistische Hysterie.
Für diese Leute ist die Aufspaltung in Nationalitäten eine regressive Verhaltensweise, hervorgerufen durch einen starken äußeren Druck. Sie ist keine „natürliche Notwendigkeit“, wie die Neonazi- Ideologen auf dem Balkan es zu proklamieren versuchen – oft mit Unterstützung europäischer Führer. Die Tatsache, daß auch unter den schlimmsten Bedingungen ein gemeinsames Leben möglich ist, hat zu der Popularität der Zeitung unter den „ganz normalen Menschen“ in Bosnien-Herzegowina beigetragen.
Gleichzeitig hat Oslobodjenje sich den Haß der Chauvinisten und Faschisten verdient, die das Land zerstückeln wollen und behaupten, daß eben dieses Zusammenleben nicht mehr sei als leere Nostalgie oder pure Hypothese.
Weil Oslobodjenje heute weit mehr ist als eine Zeitung, sind die Schlächter Bosnien-Herzegowinas so sehr darauf aus, die Zeitung verschwinden zu sehen. Unglücklicherweise erhalten die Aggressoren, die Oslobodjenje immer wieder der grundlegendsten Arbeitsmöglichkeiten berauben, Unterstützung durch politische Manöver außerhalb von Ex-Jugoslawien, speziell bei den Vereinten Nationen.
Die vor einer Weile getroffene Entscheidung, daß das Papier und die Videokassetten, die die Medien in Sarajevo brauchen, es nicht „verdienen“, Raum in den Konvois für humanitäre Hilfe zu erhalten, ist trotz des beträchtlichen Drucks, vieler internationaler, humanitärer und beruflicher Organisationen nicht revidiert worden.
Es scheint so, als müßte Oslobodjenje diesen Preis bezahlen, um die unglaubliche internationale Heuchelei zu demaskieren, die den Krieg in Bosnien umgibt. Unglücklicherweise werden sich die Dinge trotzdem derzeit nicht ändern. Die Einwohner Sarajevos, die schon alles außer ihrer Würde verloren haben, wissen dies. Deshalb wird Oslobodjenje ihre Zeitung bleiben – ganz gleich, wie viele Seiten sie hat oder wie das Format und die Farbe des Papiers sind, auf dem sie gedruckt wird.
Zlatko Diždarević
(Übersetzung: Bettina Bremme)
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