: Gefahr der Abschottung droht
Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland ■ Von Eberhard Seidel-Pielen
Als die „Islamische Föderation“ vor wenigen Jahren in Berlin den Antrag auf Gründung einer islamischen Schule stellte, standen nicht nur die Parteienvertreter des Abgeordnetenhauses kopf. In der sich daran anschließenden Diskussion entstand der groteske Eindruck, als tobe in Kürze nicht nur der „Heilige Krieg“ am Kurfürstendamm, sondern werde demnächst auch die öffentliche Auspeitschung von Ehebrecherinnen ins Repertoire des öffentlichen Lebens aufgenommen. Auf der anderen Seite steht die eher blauäugige Fraktion der Multikulti-Gemeinde, die jedwede Kritik an Radikalismen aus muslimischer Ecke als potentiellen Rassismus abbügelt. Oder gar als Versuch, das ausgemusterte Feindbild „Kommunismus“ durch „islamischen Fundamentalismus“ zu ersetzen.
Beide Positionen sind wenig zweckdienlich. Es ist eine Binsenweisheit, daß die islamische Gemeinde der Bundesrepublik so komplex ist, wie es sich für eine pluralistische Gesellschaft eben gehört. Das darf aber nicht dazu führen, die Augen vor der Realität zu verschließen. Und zu ihr gehört die in Frankfurt erscheinende Milli Gazete, in der regelmäßig antisemitische und antidemokratische Kommentare erscheinen (die in ihrem Duktus eine frappierende Ähnlichkeit mit den Positionen bundesdeutscher Rechtsradikaler aufweisen): „Der Europäer ist ein Atheist und Götzenanbeter, ein Wucherer, Kapitalist, Sozialist, Zionist, Kommunist und Imperialist, ständig brünstig und besoffen, ehebrecherisch und materialistisch. Er hat sich dem Teufel verschrieben.“
Der Journalist Metin Gür, der bereits mit „Warum sind sie kriminell geworden? Türkische Jugendliche in deutschen Gefängnissen“ auf sich aufmerksam machte, leistet einmal mehr dringend nötige Aufklärungsarbeit. In seiner Untersuchung „Türkisch-Islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland“ analysiert er Stärke, Organisationsstruktur und ideologische Ausrichtung der wichtigsten Vereinigungen. Dabei macht er aus seiner Parteilichkeit kein Geheimnis. Metin Gür besuchte Moscheen, politische Versammlungen, er sprach mit Gemeindemitgliedern, mit Jugendlichen über ihr Verhältnis zur Religion, und mit Hodschas, die sich der Zauberei und Magie verschrieben haben – authentische Materialien, die seine trockenen Organisationsanalysen beleben. Beunruhigt registriert er, dem während der Recherchen mehrfach der Tod angedroht wurde, den wachsenden Einfluß islamischer Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland, die die Errichtung eines islamischen Staates in der Türkei fordern.
In der Bundesrepublik Deutschland sind laut Gür rund 140.000 Muslime in 1.500 Moscheevereinen organisiert. Hinzu kommen nochmals gut 500.000 nichtorganisierte Anhänger. Die „Türkisch-Islamische Vereinigung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet Isleri Türk Islam Birligi), kurz DITIP genannt, ist mit 90.000 Mitgliedern und rund 350.000 nichtorganisierten Anhängern die mitgliederstärkste Vereinigung. Offiziell verpflichtet sich die DITIP dem laizistischen Prinzip und versieht ihre Aufgaben „jenseits irgendeines politischen Denkens oder Standpunktes“. Absichtserklärungen, die von einigen Amtsgeistlichen längst nicht mehr befolgt werden. Stärker als in der DITIP sind Tendenzen zu Abschottung und Aufhetzung in der zweitwichtigsten Organisation, den „Milli-Görüs- Verbänden Europa“ (Avrupa Milli Görüs Teskilatlari), kurz AMGT, vertreten. Die 1976 in Köln gegründete Organisation steht in engem Kontakt zu Neemettin Erbakans Refa Partisi (RP), welche die Errichtung eines islamischen Staates in der Türkei zu ihrem dringlichsten Programmpunkt erhoben hat. Mit 20.000 organisierten Mitgliedern und weiteren 60.000 Anhängern verfügt die AMGT über ein Aktionspotential, welches das der DITIP an Bedeutung übertrifft. So wird im Umfeld der AMGT nicht nur die oben zitierte Milli Gazete herausgegeben. Die AMGT ist es in der Regel, die Musterprozesse wie den um die Freistellung vom Sportunterricht, die Errichtung konfessioneller Schulen oder die Gründung einer islamischen Partei in der Bundesrepublik vorantreibt.
Im Gegensatz zur AMGT spielt die Organisation des weithin bekannten Extremistenführers Cemaleddin Kaplan, der „Bund Islamischer Gemeinden“ (Islami Cemaatler Birligi), heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Nicht mehr als 1.200 Gefolgsleute kann Kaplan um sich scharen. Die allerdings sind in ihrer Aggressivität und Militanz nicht zu unterschätzen.
Die Ergebnisse einer Umfrage, die Metin Gür unter 1.100 Besuchern von Moscheen der DITIB, der AMGT, des „Bundes Islamischer Kulturzentren“ und des „Bundes Islamischer Gemeinden“ durchführte, relativieren allerdings das Ausmaß des Einflusses religiöser Eiferer auf die Gläubigen. Sie bestätigen die häufig vorgetragene These, daß die Gewährung der vollen bürgerlichen Rechte den islamischen Vereinigungen die Möglichkeiten, die religiösen Bedürfnisse der Immigranten für ihre Zwecke auszuschlachten, erheblich beschneiden würde.
Bei der Frage, welche Partei sie wählen würden, falls sie das Wahlrecht hätten, zeigte sich, daß auf politischem Gebiet materielle und soziale Interessen der Glaubensüberzeugung klar den Rang ablaufen. 37 Prozent votierten für die SPD, 15 Prozent für die Einführung der Seriat (allesamt Anhänger Cemaleddin Kaplans), für die CDU 9,2 Prozent, für eine zu gründende „Islamische Partei“ 7,4 Prozent (diese Option wurde fast ausschließlich von jenen gewählt, die sich der AMGT zurechnen), für die Grünen 4,6 Prozent, für die FDP 2,2 Prozent und für die „Republikaner“ 1,0 Prozent. Der Rest enthielt sich der Meinung.
Nachdenklich stimmen die Einstellungspotentiale von 150 Moscheebesuchern, die Gür in Duisburg ermittelte: 97 Prozent der Befragten hatten keine Kontakte zu Deutschen, auch nicht zu deutschen Nachbarn. Diese Distanz ist allerdings weniger eine Reaktion auf die Intoleranz der Bundesdeutschen, sondern vielfach eine selbstgewählte Segregation. Immerhin gaben 100 Prozent an, daß Mädchen, wenn sie heiraten dürfen, keinen Deutschen heiraten sollten.
Man kann Metin Gür vorwerfen, seine Analyse türkisch-islamischer Vereinigungen verzerre die Wirklichkeit. Unberücksichtigt bleiben beispielsweise die Aktivitäten eher säkular und sozialdemokratisch orientierter Gruppen wie etwa der Aleviten. Ebenso problematisch dürfte es sein, aus der Zahl der Besucher der Moscheen der DITIB, der AMGT oder anderer Vereinigungen direkte Rückschlüsse auf Weltanschauung, ideologische Einstellung und potentielle Anzahl ihrer Anhänger zu schließen. Denn häufig geht es den Gläubigen schlicht um die Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse. Aber in welcher Form der Islam anerkannter, integraler Bestandteil der Bundesrepublik wird, geht – auch das ist eine Schlußfolgerung aus Gürs Buch – alle an: Muslime wie Nicht-Muslime.
Metin Gür: „Türkisch-Islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland“. Brandes und Apsel, Frankfurt/M. 1993, 186 Seiten, 29,80 DM
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