: Volksdeputierte ohne Freiflugschein
■ Ein Teil von Moskaus Konservativen zeigt sich kompromißbereit
Moskau (taz) – Am zweiten Tag der Moskauer „Doppelherrschaft“ wurde auch den Gegnern Jelzins immer deutlicher, daß sie ihre Niederlage kaum mehr abwehren können. So begann ein vorsichtiges Einlenken. „Präsident“ Ruzkoi sprach von der Möglichkeit eines Dialoges.
Jelzin hatte jedoch schon am Vortag den Dialog mit dem Parlament abgelehnt. Er scheint entschlossen, dieses Mal die altkommunistischen Abgeordneten in die Knie zu zwingen. Für den 12. Juni nächsten Jahres kündigte er auch Neuwahlen des Präsidenten an.
Auch in diesem Zusammenhang signalisierte Ruzkoi „Gesprächsbereitschaft“. Er plädierte für gemeinsame Wahlen des Präsidenten und des Parlaments im Februar. Parlamentschef Chasbulatow lehnte dagegen jede Kompromißbereitschaft ab. „Jelzin ist jetzt nichts anderes als ein gewöhnlicher Bürger“, meinte er trotzig während einer Pressekonferenz. Auch drohte er noch einmal mit seinen Verbindungen: „Wir haben erhebliche Möglichkeiten im Sicherheits- und Verteidigungsministerium, nur nutzen wir sie nicht.“
Chasbulatow will sich mit seinem demonstrativen Verhalten wider besseres Wissen wohl selbst noch einmal Mut machen. Sein stellvertretender Vorsitzender im Parlament, Nikolai Rjabow, er zählte seit längerem zu den Befürwortern eines Kompromisses mit Jelzin, trat gestern von seinem Amt zurück. Außerdem konstituierte sich eine Gruppe Deputierter, die offen die Handlungen des Parlaments geißelte.
Dennoch treffen nach wie vor Abgeordnete des Volksdeputiertenkongresses, des ehemals höchsten Gesetzgebers, aus allen Landesteilen in Moskau zu einer außerordentlichen Sitzung ein. Die Regierung forderte sie auf, am Kongreß jedoch nicht teilzunehmen. Die Abgeordneten hatten die Beschneidung ihrer Privilegien schon zu spüren bekommen. Zum ersten Mal mußten sie ihren Flug nach Moskau selbst bezahlen. Im Parlamentsgebäude sollen sie Schlange gestanden haben, um sich die Fahrtkosten rückerstatten zu lassen. Die Reserven werden nicht lange reichen. Eindeutig hat auch das russische Fernsehen Stellung bezogen und sich auf die Seite Jelzins geschlagen, während die gewöhnlich liberale Presse erstaunlich zurückhaltend argumentiert.
Bei der ersten Meinungsumfrage seit dem Ausbruch des offenen Machtkampfes haben 64 Prozent von 1.000 Befragten erklärt, Boris Jelzin sei der wahre Präsident Rußlands. Nur 16,4 Prozent billigten dem Gegenpräsidenten Alexander Ruzkoi diesen Status zu. 52 Prozent bewerteten die Parlamentsauflösung als richtige Entscheidung; 17,8 Prozent meinten jedoch, der Präsident habe damit zu lange gewartet.
Nur 22,2 Prozent der 1.000 Befragten waren laut Gallup der Ansicht, daß Jelzins Schritte die Krise verschärfen und zu einer Katastrophe führen werden. 31 Prozent glaubten an eine Entschärfung der Krise durch Jelzins Maßnahmen, 25,5 Prozent erwarten überhaupt keine Veränderung der Lage.
57 Prozent der Befragten äußerten nach Gallup-Angaben das größte Zutrauen in Jelzin und die Regierung von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin. Lediglich 14,7 Prozent äußerten Vertrauen in den Obersten Sowjet und dessen Vorsitzenden Ruslan Chasbulatow sowie den als Gegenpräsidenten vereidigten Alexander Ruzkoi. Klaus-Helge Donath
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