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Die digitale Glotze

■ Schöne neue TV-Welt: Es wird alles noch viel schlimmer!

Zeitgerecht zur Internationalen Funkausstellung in Berlin bemerkte man in Europa eine technische Entwicklung, die in den USA bereits zu kühnen Visionen und ersten Versuchsmodellen geführt hat. Den Takt dieser Zukunftsmusik schlägt das digitale Fernsehen. Es ist eine neue Form der Übertragungstechnik, bei der die Fernsehbilder nicht analog als Elektrowellen vermittelt werden, sondern wie bei der Datenfernübertragung via Computer als verschlüsselte Informationen. Das wiederum ermöglicht „interaktives Fernsehen“, bei dem die Bedienung des Bildschirmgeräts der erweiterten Nutzung eines Personalcomputers gleichkommt.

Die Verheißungen des interaktiven Fersehens: Der Zuschauer bestimmt sein Programm zu Hause mit. Er kann zwischen bis zu 500 Kabelkanälen wählen, er kann wie aus einer Videothek Tausende von Filmen abrufen, er kann Bücher, Zeitschriften und Zeitungen einsehen, Videospiele testen, sich an Ratespielen beteiligen; er kann sich eine von vier zur Verfügung stehenden Kameraeinstellungen aussuchen; er kann zusätzliche Informationen – zu Schauspielern, zu Sportlern – einblenden, er kann einen entsprechend gedrehten Film aus verschiedenen Handlungsverläufen oder Erzählperspektiven verfolgen. Er kann, da die Fernsehbilder während und nach ihrer Ausstrahlung als gespeicherte Informationen verfügbar sind, Programmteile wie bei einem Videorecorder wiederholen, verlangsamen oder beschleunigen. Schließlich kann er mittels seines computergerechten Fernsehgeräts am Bildschirm einkaufen, das Bankkonto einsehen und das Fernsehprogramm über den Telefonanschluß empfangen.

Knapp fünf Milliarden Dollar will sich der Time-Warner-Konzern den Ausbau seines amerikanischen Kabelnetzes bis 1998 kosten lassen, damit ihn auf der „elektronischen Datenschnellstraße“ niemand überholt. In Pilotprojekten wie dem von ATT und Viacom betriebenen 18monatigen Versuch in Castro Valley bei San Francisco erhalten schon Tausende von Amerikanern einen Vorgeschmack des „Fernsehens im Jahr 2000“, und im nächsten Jahr sollen in ausgewählten Regionen große Testversuche beginnen. Die Firma Interactive Network etwa bietet zwei kalifornischen Regionen derzeit ein Tagesprogramm von 80 Sendestunden Unterhaltung, während der SEGA Channel mit Videospielen lockt und TV Answer in Virginia zum Einkaufsbummel einlädt.

Die Europäer trifft das digitale Fernsehen allerdings hart. Es vermag nämlich etwas, woran sich die Europäer jahrelang die Zähne ausgebissen haben: Es kann dank der amerikanischen Videoexperten das hochauflösende Fernsehen (HDTV) in herkömmlichen Übertragungskanälen unterbringen. Seit 1989 versuchen europäische Techniker, mit 400 Millionen Mark Fördermitteln aus der EG-Kasse, den Entwicklungsrückstand in Sachen HDTV gegenüber den Japanern wettzumachen; zur letzten Funkausstellung konnten sie endlich das sogenannte HD-MAC vorstellen, eine Zwischenstufe zum reinen HDTV, die es ermöglichen sollte, die klareren, Kinofilmen ähnlichen HD-Programme im 16:9-Format mit herkömmlichen Fernsehgeräten plus Decoder zu empfangen. Doch schon 1990 hatte das amerikanische Elektronikunternehmen General Instruments das erste rein digitale Fernsehsystem vorgestellt, das das HD- MAC und die dafür entwickelten Decodergeräte schlicht erübrigt.

Die Medienpolitiker der Europäischen Gemeinschaft wollten die sich in den USA abzeichnende Entwicklung nicht wahrhaben. Hält man den europäischen Industrieriesen vor, mit der Weiterentwicklung von HD-MAC nur staatliche Zuschüsse kassiert haben zu wollen, so ziehen sie sich darauf zurück, daß laut EG-Kommission nur rund 15 Prozent des aufgewandten Forschungsaufwands verschwendet seien. Zum Glück blockierten die Briten einen (weiteren) Aktionsplan der EG-Kommission, der mit 1,7 Milliarden Mark HD- MAC hätte zum weltweiten Durchbruch verhelfen sollen. Der britischen Regierung schien das Geld für ein absehbar bald veraltetes System falsch investiert. Sie verweigerte ihre Zustimmung auch, als die Summe im Dezember 1992 auf eine Milliarde Mark, später auf 600 Millionen und dann auf 300 Millionen Mark herabgesetzt wurde. Nun ist der HD-MAC- Vorschlag vom Tisch, im Aktionsplan ist als Ziel lediglich die Entwicklung von Bildschirmen und Programmen festgeschrieben, die dem 16:9-Format entsprechen.

Damit hat ein Fernsehsystem neue Chancen, das von ARD, ZDF, der britischen BBC und den Firmen Philips und Thomson ebenfalls auf der letzten Internationalen Funkausstellung ins Gespräch gebracht worden war: Pal Plus. Es ist schlicht eine Verbesserung des bestehenden, im 4:3-Format produzierten Fernsehsystems Pal. Mit Pal Plus könnten ab 1994 herkömmliche Geräte breitformatige Programme empfangen; mit digitalem Fernsehen und Filmen in HDTV ist ohnehin nicht vor Ende des Jahrzehnts zu rechnen.

Ob das interaktive Fernsehen also wirklich der letzte Schrei ist, sei vor diesem Hintergrund bis auf weiteres dahingestellt. Medienkritiker warnen, die Entwicklung zu überstürzen. Zum einen sehen sie die Gefahr, daß nicht genügend Programme zur Verfügung stehen könnten, zum anderen geben sie zu bedenken, daß die Kosten für die Kunden noch nicht kalkuliert werden können – der frühere NDR- Journalist Horst Seifart veranschlagt die Kosten für eine vollständige Umstellung auf digitales Fernsehen in Deutschland auf satte 300 Milliarden Mark. Ferner befürchten warnende Experten, daß das System des interaktiven Fernsehens in der Anfangsphase so unüberschaubar und schwer zu handhaben sein könnte, daß es nur abschreckend wirkt. Da heute ein Großteil der Gerätebesitzer noch nicht einmal seinen Videorecorder programmieren kann, betrachten sie ein computerähnliches Fernsehen nicht unbedingt als der Weisheit letzten Schluß. Sony-Präsident Olafur J. Olarson meint dazu mit ernüchterndem Blick für die Wirklichkeit ganz einfach, daß „die meisten Leute, wenn sie nach Hause kommen, sich vor den Fernseher setzen und mit nichts als ihrem Kühlschrank interagieren wollen“. Manfred Loimeier

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