: Der Griff in die Tasche
Ostdeutsche Kommunen müssen mehr Aufgaben mit weniger Geld bewältigen / Steuereinnahmen noch gering, Gebühren als Notpfropfen ■ Aus Potsdam Anja Sprogies
Mit einem Hilferuf wandte sich unlängst der Potsdamer Landrat Norbert Glante an die Öffentlichkeit. „Wir können ab Herbst keine Gehälter mehr bezahlen“, klagte der Sozialdemokrat. 25 Millionen DM fehlen in seiner Kasse – bei einem Gesamthaushalt von 188 Millionen DM. Und Kredite bekommt er auch nicht mehr. Potsdam ist kein Einzelfall. Die Kreise und Kommunen in Brandenburg stehen vor dem Finanzkollaps.
Mit einer Blitzaktion reagierte das Stolpe-Kabinett. Innenminister Ziel versprach großzügig, in diesem Jahr den Kreisen Kredite zur Verfügung zu stellen, um die akute Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Zusätzlich sollen die in Brandenburg Ende des Jahres durch Zusammenlegung entstehenden 14 Großkreise erst 1995 mit den Haushaltsdefiziten ihrer Vorgänger belastet werden. In welcher Höhe die Schuldenübernahme erfolgen soll, ist noch völlig unklar. Das sei „Verhandlungssache“, meint der Finanzminister.
Nach einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beträgt die Schuldenlast der Gemeinden in Brandenburg insgesamt 420 Millionen DM; hinzu kommen die Defizite der kreisfreien Städte von 200 Millionen DM. Im Finanzministerium ist man nicht bereit, für die „Mißwirtschaft der Kreise und Gemeinden einzustehen“, so Pressesprecher Henning Schmidt. Jeder Kreis müsse seinen Haushalt vor dem Finanzminister verantworten, kündigte Schmidt an.
Besonders betroffen von dem Vorwurf der „Mißwirtschaft“ ist der 100.000 Einwohner zählende Landkreis Potsdam. Er hat am meisten Schulden von allen Kreisen in Brandenburg. Trotzdem weist der Landrat jeden Vorwurf, nicht ordentlich zu wirtschaften, verärgert von sich. „Ich kann jeden Posten gegenüber dem Finanzminister verantworten.“ Wiederholt habe er dort angeboten, über sein Haushaltsloch zu sprechen, so Glante. Eine Antwort auf seine Offerte blieb bis heute aus. „Statt dessen hörten wir von dort nur, daß wir Personal abbauen sollen.“
Mit neun Mitarbeitern pro 1.000 Einwohner liegt der Landkreis Potsdam nämlich weit über den Richtwerten des Innenministeriums. Ziel forderte von den Kreisen und Gemeinden, eine Reduzierung des Personals auf 5 pro 1.000 Einwohner. Das würde im Kreis Potsdam Einsparungen von bis zu 25 Millionen DM bei den mit 42 Millionen veranschlagten Personalkosten ergeben. Doch selbst ein internes Papier des Finanzministeriums kommt zu dem Schluß, „daß diese Einsparungen kurzfristig nicht herbeizuführen sind.“
Glantes Hauptproblem ist die hohe Belastung im Sozialbereich. Während andere Bereiche im Haushalt sogar mehr einnehmen als ausgeben, reißt das Soziale ein großes Loch in den Kreissäckel. In Potsdam beträgt das Defizit hier über 37 Millionen DM. Allein die Kindereinrichtungen beanspruchen über 13 Millionen DM Zuschuß. Das Minus im sozialen Bereich liegt bereits weit über den 27 Millionen Mark, die der Kreis vom Land erhält.
Nach einem Umfrageergebnis des DIW sind in Brandenburg über 60 Prozent des kommunalen Personals im sozialen Bereich tätig. Nach dem Einigungsvertrag mußten die ostdeutschen Kreise und Kommunen alle sozialen Einrichtungen übernehmen. Und freie Träger, wie in den alten Bundesländern, lassen sich in Potsdam nicht finden. Auch die Schulen mußten im Kreis Potsdam mit über 11 Millionen DM unterstützt werden. Allein aus den beiden Bereichen Schule und Soziales ergibt sich demnach ein Defizit von über 48 Millionen DM. Sie fressen praktisch die gesamte Zuweisung vom Land in Höhe von 53 Millionen DM. Weitere Pflichtaufgaben des Kreises in den Bereichen öffentliche Sicherheit und Ordnung oder Gesundheit sind aus den allgemeinen Deckungsmitteln nicht mehr zu finanzieren.
Der Anteil der freiwilligen Aufgaben wie etwa Wissenschaft, Forschung, Kulturpflege, Gesundheit, Sport oder öffentliche Einrichtungen beträgt nur 2,2 Prozent des Gesamthaushaltes. Hier ergeben sich kaum Sparmöglichkeiten, da ein völliger Verzicht auf freiwillige Aufgaben dem Kreis nicht zumutbar ist.
Auch die Einnahmen der Kreise können nach dem DIW-Gutachten nur geringfügig gesteigert werden. Problematisch ist vor allem die Struktur der Steuereinnahmen. Während in den alten Bundesländern die Einnahmen aus der Gewerbesteuer etwa der Größenordnung der Lohn- und Einkommenssteuer entsprechen, macht die Gewerbesteuer in Brandenburg nur ein Fünftel der kommunalen Steuereinnahmen aus. Dies wird sich auch in den kommenden Jahren angesichts der andauernden Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft nur wenig verbessern. Steigerungen lassen sich hier nicht erzielen. Auch mehr Landeszuweisungen sind nicht zu erwarten. Lediglich die Gebühren könnten noch angehoben werden. Potsdam zieht aus den Gebühren und sonstigen Entgelten bislang rund 25 Millionen DM. Für alle ostdeutschen Kreise kommt es deshalb darauf an, weitere Einnahmen zu erschließen. Und dies ist vorerst nur über den Griff in die Taschen der Bürger möglich.
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