: Die Neugierde wecken
Interkulturelle Erziehung bedarf kleiner Veränderungen in der institutionalisierten Kindererziehung und praktischer Ansätze ■ Von Rosalba Maccarrone Erhard
Als werdende Mutter eines Kindes, das mindestens zwei Kulturen in sich tragen wird, fällt es mir schwerer, über interkulturelle Erziehung zu sprechen, als in all den Jahren meiner Berufstätigkeit als Psychologin. Was werden wir – ich, Italienerin, seit acht Jahren in Deutschland, und mein deutscher Mann – unserem Kind über Gleichberechtigung und -wertigkeit erzählen können, wenn ich in diesem Land immer noch nicht wählen kann? Werde ich ohne weiteres auch in der Öffentlichkeit mit unserem Kind italienisch sprechen, ohne Angst, daß jemand komisch schaut oder uns mit Feindseligkeit begegnet?
Viele sogenannte „ausländische Mitbürger“ empfinden das Leben in Deutschland in den letzten Jahren als so bedrohlich und verunsichernd, daß sie sich immer ernsthafter mit dem Gedanken einer Rückkehr ins Heimatland beschäftigen. Hoyerswerda, Mölln und Solingen lassen auch bei gut integrierten Ausländern die Vorstellung aufkommen, die erreichte soziale Position, die ökonomisch solide Lage, die Freunde, die bereits liebgewonnene Stadt zu verlassen. Für einige ist die Bedrohung so groß, daß sie gar den Kopf schüttelten, als sie von meinem halbdeutschen Kind erfuhren.
Ganz anders habe ich Deutschland vor acht Jahren kennengelernt, als ich, 25jährig, frisch diplomiert und nach schmerzhaften Erfahrungen als sizilianische Migrantentochter in Norditalien, nach Frankfurt kam. Hier begegneten mir Sympathie, Begeisterung und das Interesse vieler Menschen. Für jemanden, der es aus Norditalien gewohnt war, durch subtile Bemerkungen an seine „Minderwertigkeit“ erinnert zu werden, eine erstaunlich positive Erfahrung. Aus diesem Gefühl heraus stammt mein erstes Verständnis für eine interkulturelle Erziehung, nämlich Kindern und Erwachsenen eine neugierige Begegnung mit dem Fremden zu ermöglichen. Im Sinne einer Bereicherung des eigenen Horizontes, einer Entdeckungsreise, in der auch die eigenen Eigenschaften und Besonderheiten in neuem Licht erscheinen können. Damals konnte ich mich mit Enthusiasmus den Leuten anschließen, die hier seit Jahren in Kindergärten und Schulen versuchen, Kinder aus verschiedenen Ländern interkulturell zu erziehen. Die ersten Projekte gab es Anfang der siebziger Jahre in Kindergärten, etwas später gefolgt von den Schulen. Interkulturelle Erziehung wurde ein Orientierungsberiff für alle Pädagogen. Bis heute hat dieses Konzept jedoch nicht die allgemeine Erziehungs- und Bildungspraxis unserer Gesellschaft verändert. Die gegenwärtige fremdenfeindliche Lage in Deutschland verstärkt die Abwehr vieler Kollegen gegen die Forderung eines interkulturellen Lernens. Auch der Versuch einiger Sozialwissenschaftler, die Verantwortung für den zunehmenden Fremdenhaß auf eine gescheiterte Erziehung zu schieben, ist keine Ermutigung. Tatsache ist, daß, egal wie schwierig und komplex unser Leben in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft geworden ist, wir in einer solchen Gesellschaft leben. Daraus könnten wir viel machen. Das heißt, daß Kinder in deutschen Erziehungseinrichtungen zur Wertschätzung ihrer Besonderheit erzogen werden, ohne zu schnell auf ihre „Mängel“ beispielsweise hinsichtlich der deutschen Sprache gestoßen zu werden.
Meine analytische Ausbildung konfrontiert mich täglich mit der Projektion unbewußter und unerwünschter eigener Anteile auf andere. Dabei handelt es sich um eine tiefsitzende und sehr nützliche Abwehrstrategie der Menschen, die hilft, Ungewohntes und Fremdes zu verarbeiten. Gerade in der Psychoanalyse aber lernt man, wie notwendig es ist, sich mit diesen unbewußten Anteilen auseinanderzusetzen, um letztlich selber besser leben zu können. In diesem Sinne stellt die Praxis interkultureller Erziehung kein Problem, sondern eine Chance dar.
All dies beginnt mit kleinen Veränderungen im Alltag. Wenn in der Grundschule beispielsweise Maria oder Ipek zu spät kommen, weil sie vor dem Unterricht noch Aufgaben zur Unterstützung ihrer Familien erledigen müssen, sollten sie nicht zur Pünktlichkeit gemahnt werden, sondern man sollte gleitende Anfangszeiten einführen. Mit dieser Regelung würden sich die meisten ausländischen Eltern besser verstanden fühlen. Noch mehr ist dies möglich in Vorschuleinrichtungen, die unter geringerem Leistungszwang existieren. In den Kindertagesstätten der Stadt Frankfurt ist es heute gängiger geworden, daß ausländische Kinder sich in ihrer Muttersprache unterhalten, ohne daß die ErzieherInnen sie ermahnen, doch besser Deutsch zu lernen. Vielen ist inzwischen klar geworden, daß eine gute Kenntnis der Muttersprache die beste Voraussetzung zum Erlernen weiterer Sprachen ist. Doch noch zu selten gibt es Materialien oder Spiele, um mit deutschen Kindern zusammen die eigene Sprache zu pflegen. Wünschenswert wäre es, einen Zustand zu erreichen, in dem keiner mehr glaubt, es sei überflüssig, Italienisch, Griechisch oder Türkisch zu lernen, nur weil diese keine Weltsprachen sind.
Nur indem Minderheiten nicht massiv in Ghetto-Realitäten gedrängt werden, wo sie sich fundamentalistisch an ihre Ursprungskultur klammern, läßt sich das friedliche Zusammenleben zwischen den verschiedenen Kulturen fördern. Unabdingbare Voraussetzung ist dabei vor allem die Kooperation zwischen deutschen und ausländischen PädagogInnen. Dies nicht nur zu besseren sprachlichen Verständigung in der Elternarbeit, sondern weil diese KollegInnen aus anderen Ländern die Erfahrung der Migration selbst gemacht und die Anpassung an das Leben im Ankunftsland am eigenen Leibe kennengelernt haben. Sie können sogar in vielen Fällen eine neue Anregung für Kinder der zweiten oder dritten Generation sein, sich neu mit ihrer Ursprungskultur auseinanderzusetzen. Dies ist um so wichtiger, da ihre Eltern oft bemüht waren, sie an die deutsche Mentalität und Sprache anzupassen. Für viele ausländische KollegInnen bedeutet dies eine Herausforderung. Der politische Wille, stärker als bisher ausländische Fachkräfte in den pädagogischen Instituten auszubilden und zu integrieren, wäre ein ermutigendes Zeichen und ein konkreter, machbarer Ansatz.
Sigmund Freud schrieb 1929 in „Das Unbehagen in der Kultur“: Kultur „sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenbringen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht, das sei eben das Werk des Eros. Diese Menschenmengen wollen libidinös aneinandergebunden werden; die Notwendigkeit allein, die Vorteile der Arbeitsgemeinschaft, werden sie nicht zusammenhalten. Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb des Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen