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100.000 in Abchasien auf der Flucht

■ Abtrünnige kontrollieren angeblich die gesamte georgische Provinz / Schewardnadse spricht von „ethnischer Säuberung“

Genf/Tblissi (AP/AFP/epd) – In Abchasien sind nach Schätzungen der UNO weit über 100.000 Menschen auf der Flucht. Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) und der Behörde für humanitäre Angelegenheiten (DAH) sagten gestern in Genf, die Vereinten Nationen würden in den nächsten Tagen 500 Tonnen Weizenmehl, Pflanzenöl und Zucker sowie 30.000 Wolldecken und 3.000 Kücheneinrichtungen nach Abchasien schicken. Außerdem werde sich die UNO mit einem Hilfsappell an die Völkergemeinschaft wenden.

In der georgischen Provinz kämpfen Separatisten für Unabhängigkeit. Jedoch sollen nur etwa zwanzig Prozent ihrer Bewohner tatsächlich Abchaser sein.

„Die Lage ist sehr ernst“, sagte Robert Souria vom Menschenrechtsbüro der UNO. Die Anzahl der Flüchtlinge sei dramatisch und werde wahrscheinlich noch steigen. Viele Georgier hätten sich vor den abchasischen Truppen in die abgelegene Bergstadt Mestia geflüchtet, die mit Fahrzeugen schwer erreichbar sei. Um sie mit Hilfsgütern zu versorgen, müßten Hubschrauber eingesetzt werden. Die ersten Flugzeuge mit Hilfsgütern sollen am kommenden Dienstag in Richtung Georgien starten. Einen Teil der Kosten wollen die Regierungen Italiens und der Schweiz übernehmen.

Die Moskauer Nachrichtenagentur ITAR-Tass meldete gestern unter Berufung auf das russische Verbindungsbüro in Abchasien, die Separatisten hätten nach Eroberung der Städte Otschamtschira und Gali den Inguri erreicht. Der Fluß bildet die natürliche Grenze zwischen der Provinz Abchasien und Rest-Georgien.

Der abchasische Oberkommandierende Sultan Sosnalijew behauptete, seine Truppen würden inzwischen die gesamte Provinz kontrollieren. Laut ITAR-Tass leisteten jedoch noch einige versprengte georgische Einheiten Widerstand. Ein Teil der georgischen Truppen habe sich in unzugängliche Bergregionen zurückgezogen. Die georgische Nachrichtenagentur Iprinda berichtete, georgische Einheiten setzten in den Bergen um die abchasische Hauptstadt Suchumi und Otschamtschira den Widerstand fort.

Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse bezeichnete die abchasischen Truppen als „Mörder und Faschisten.“ Er warf den Abtrünnigen vor, Georgier in der Provinz systematisch zu verfolgen: „In ganz Abchasien herrscht eine methodische ethnische Säuberung.“ Der frühere sowjetische Außenminister warnte vor einem weiteren Zerfall Georgiens. Der „Virus des Separatismus“ könne sich auch in andere Landesteile ausbreiten. Die Lage in der Provinz Mingrelien sei ein solches Beispiel. Dort regiere der georgische Ex-Präsident Swiad Gamsachurdia, der 1992 in Tblissi gestürzt worden war. Der Führung Rußlands warf Schewardnadse „Verrat“ vor und beschuldigte sie, für die Niederlage der Georgier verantwortlich zu sein. Auch die internationale Völkergemeinschaft trage Verantwortung für die Abspaltung Abchasiens, da zahlreiche Regierungen die Provinz als russisches Einflußgebiet betrachteten.

Unterdessen meldete das Pressebüro des separatistischen abchasischen Parlaments, das Leben in der Hauptstadt Suchumi beginne sich zu normalisieren. So habe die örtliche Brotfabrik gestern die Produktion wiederaufgenommen. Auf der Schiffswerft würden Fischkutter repariert, und auch die Tabakfabrik werde am Samstag den Betrieb wiederaufnehmen.

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