: Die Schnüfflertruppe
Die menschliche Nase ist nicht ersetzbar / Stuttgarter Olfaktometrie-Forscher schnappen auf Müllhalden und Kompostwerken nach Luft ■ Von Annette Wagner
Henry Breu ist Schnüffler von Beruf. Er sammelt Luft – dort wo sie am dicksten ist: Wo Hausmülldeponien zum Himmel stinken, Abwässer in Klärwerksbecken faulen, wo Tierkörper verwesen – dort stellt er sein Unterdrucksauggerät auf und tütet all die ekligen Ausdünstungen ein: 22 Liter Gestank pro Alubeutel.
Doch damit nicht genug: Breu transportiert seine Beutel in einen kleinen Container im Stuttgarter Vorort Büsnau. Dort warten bereits vier weitere Spürnasen darauf die Stinkeluft abzuschnüffeln. Sie sitzen in sichtisolierten Kabinen, die Nasen in metallene Riechrohre vertieft. Ekel bis zur Ekstase – eine neue Art von kollektivem Riechrausch? Weit gefehlt: Dieses Team schnappt Luft im Dienste der Wissenschaft. Es erstellt am Institut für Siedlungsabfallwirtschaft der Universität Stuttgart Umweltverträglichkeitsgutachten. Die dortige Abteilung Biologische Abluftreinigung prüft unter Anleitung von Diplomingenieur Willem Jan Homans geruchsbeladene Luftproben nicht etwa auf schädliche Inhaltsstoffe – sondern bewertet sie nach Geruchsintensität und Duftnote.
Olfaktometrie heißt dieser ungewöhnliche Wissenschaftszweig, in dem einzig die menschliche Nase als Sensor taugt. Denn keine technische Meßapparatur kann die sensiblen Geruchsdetektoren von Henry Breu und seinen Kollegen bislang ersetzen. Manche Forscher-Kollegen aus den angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen Physik und Chemie rümpften anfangs die Nase über die grenzüberschreitende Schnüffeltruppe. Seit jedoch 1986 in einer VDI-Richtlinie Probenahme und Analysevorgang der Olfaktometrie festgeschrieben wurden, gilt sie als anerkannte Meßmethode.
Heute auf der Tageskarte der vier Testschnüffler: Gestank aus den abgeschotteten Hallen eines Stuttgarter Kompostierungswerkes, wo städtisches Grünzeug und Biomüll kontrolliert verrotten. Zum Nachtisch: Eine zweite Luft- Probe von der Oberfläche des angeschlossenen Biofilters. Die Testfrage: Arbeitet die Filteranlage so effektiv, daß die Angestellten im angrenzenden Gewerbegebiet unbehelligt bleiben? Zunächst zischt nur Neutralluft durch die Rohre in die Riechmasken. Dann wird die Rotteluft in extremer Verdünnung beigemischt. Sobald es stinkt, gilt: Druck auf die Signaltaste! Nach drei Durchgängen steht dann der Grenzwert fest, an dem 50 Prozent der Probanden Geruch empfinden. Über den Verdünnungsgrad der Probe wird deren Geruchskonzentration errechnet.
Die Stuttgarter Geruchstester stellen ihren Sauger jedoch nicht nur dort an, wo es zweifelsohne stinkt. Auch wenn bei der Lebensmittelherstellung an sich Wohlriechendes wie Kaffee oder Lebkuchen rund um die Uhr duftet, werden sie um Expertisen gebeten. Denn auch permanenter Schokoladen-Duft in der Luft kann sich zu einer „erheblichen Belästigung“ summieren. Die liegt neuesten Richtlinien zufolge vor, wenn in mehr als zehn Prozent der Jahresstunden belastende Gerüche festzustellen sind.
Muß der Test-Schnüffler eine Supernase haben? Ganz und gar nicht, sagt Versuchsleiterin Catharina LeHuray: „Die Voraussetzung ist, daß er nicht zu gut und nicht zu schlecht riecht, sondern eine deutsche Normnase hat.“ Allerdings müssen die Durchschnittsnasen enthaltsam sein, um ablenkende Eigengerüche zu minimieren: Morgens kein Parfüm, keinen Kaffee, keine Zigarette; am Abend zuvor keine Knoblauchorgien, und auf Rasierwasser sollte Henry Breu tunlichst auch verzichten.
Das Testergebnis aus dem Stuttgarter Kompostierungswerk fällt zufriedenstellend aus – für die Betreiber wie für die Anwohner: Der Biofilter an der Rottehalde funktioniert; die Probe von seiner Oberfläche ist nahezu geruchsfrei. Homans Schnüffeltruppe ist keine Geruchspolizei für jedermann: Wem Nachbars Meerschweinchengehege über den Zaun stinkt, der wird kaum ein olfaktometrisches Gutachten bezahlen können, um die Auflösung des muffelnden Haustier-Zoos zu erzwingen. Ein Konzern wie Mercedes-Benz indes kann sich einen Profi-Schnüffler schon mal leisten. Die dortige Konstruktionsabteilung bat Henry Breu vor zwei Jahren um olfaktometrischen Beistand: Man hatte für die Innenverkleidung der S- Klasse einen neuartigen Kunststoff vorgesehen und wollte wissen, ob der markentypisch dufte. Breu schnupperte und gab sein Ja- wort, die S-Klasse ging in Serie. Am Odeur lag es bekannterweise nicht, daß sie schließlich ein Flop wurde.
Noch obskurer war der Auftrag, den ein schwäbischer Tüftler erteilte: Der stellt wiederverwertbare Grabkammern aus Stahlbeton her. Und hofft mit seiner Erfindung den großen Reibach zu machen, indem er sie tausendfach an Gemeinden verkauft, deren Friedhofsareale entweder zu naß oder zu trocken für natürliche Verwesung sind – und die deshalb unplanmäßig lange auf ihren mumifizierten Leichen sitzen bleiben. Den Geruch, der aus den Betongräbern aufsteigenden Verwesungsgase soll ein aufgesetzter Pflanzentrog neutralisieren. Als Versuchskaninchen dient seit nunmehr einem Jahr das Schwein Elsa, das während eines Transportes aus Osteuropa verendete und probeweise in Beton bestattet wurde – und dessen „Kompostierungsgrad“ nach Aussage eines beteiligten Gerichtsmediziners zufriedenstellend fortgeschritten ist.
Der stinknormale Alltag der Stuttgarter Olfaktometrie-Forscher ist allerdings weniger exotisch: Ist eine Mülldeponie sachgerecht geschichtet oder gibt es Risse, aus denen Faulgase entweichen? Arbeitet die Filteranlage am Chemiewerk vorschriftsmäßig? Das sind ihre häufigsten Kontrollaufgaben. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt aber mittlerweile zukunftsweisend auf umweltschützerischer Planung: Die erschnüffelten Erfahrungswerte fließen in Standortgutachten für anwohnerfreundlichere Fabriken, Deponien und Entsorgungsanlagen ein.
Drei Jahre lang ist Henry Breu nun schon Schnüffler – und ihm stinkt's noch lange nicht. 20.000 Geruchseinheiten am Entlüftungsschacht einer Hausmülldeponie an einem schwülen Augusttag, die können einen schon mal umhauen. Aber abgestumpft ist er in seinem Job nicht, eher sensibler geworden. Und sein Lieblings-Odeur ist nach wie vor der Duft einer Rose. Allerdings ertappt er sich schon mal dabei, daß er die Nase schnuppernd über den Kaffeefilter hängt und denkt: wieviel Geruchseinheiten das wohl sind?
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