: Plastik-Weihnachtsbäume für Puschkin
■ Der achte und bisher größte Hilfstransport des Bezirks Neukölln für die russische Partnerstadt Puschkin ist in der vergangenen Woche angekommen / Der Bezirk unterhält die größte städtische Suppenküche
Vieles ist schiefgegangen. Und doch sind am Ende fast alle glücklich: Der achte und bisher größte Hilfstransport des Bezirks Neukölln hat dessen russische Partnerstadt Puschkin in der vergangenen Woche erreicht. Dennoch war es schwieriger, als sich Transportleiter Olaf Thran das vorgestellt hatte: Viermal mußte der Hilfskonvoi aus zehn Lastkraftwagen mit Anhängern seine Fahrt unterbrechen, weil einer der Lastwagen repariert werden mußte. Der Zeitplan verschob sich, die fünf russischen und litauischen Fahrer kamen in den ersten 32 Stunden kaum zum Schlafen.
Olaf Thran hat alle acht bisherigen Konvois organisiert. Noch immer aber erwarten ihn in Puschkin unangenehme Überraschungen. Die Unterkunft, die ihm die Partnerstadt zugesagt hatte, war belegt. Vier Mark hatte sie pro Person und Nacht kosten sollen. Eine Nacht im Devisen-Hotel, in das die rund 40 Fahrer und Bezirksamtsmitarbeiter ausweichen mußten, kostete 50 Dollar. Doch wer den Russen helfen will, muß über solche kleineren Schwierigkeiten hinwegsehen.
So war ein Großteil des Hilfstransports für „das“ Krankenhaus in Puschkin bestimmt. Chefarzt Iwan Panasjuk scheint seine Stadt jedoch nicht gut zu kennen, denn den Journalisten verschweigt er, daß es in Puschkin neben dem „38.“ noch andere Krankenhäuser gibt. Trotz allem: Betten, Nachttische, Laborgeräte und Medizin kann Panasjuk gut gebrauchen. Bisher wurden nur die Schwerkranken in Betten mit verstellbarer Rückenlehne gelegt. Im Liegen aber können die oft alten Menschen nicht essen. Die Lieferung aus Neukölln deckt nur ein Zehntel des Bedarfs im 710-Betten- Hospital. Noch dringender als Betten aber braucht Panasjuk Betäubungsmittel: Das Krankenhaus kann die Narkotika schon lange nicht mehr zum Staatspreis in der Apotheke kaufen. Den Patienten, die zu einer Operation ins 38. kommen, raten die Ärzte daher, sich ihre Betäubungsmittel auf dem Schwarzmarkt selbst zu besorgen. Was aber ist mit dem Mann, der jetzt in der Reanimation um sein Leben keucht? Eigentlich wollte er nach Petersburg und nicht ins Krankenhaus: Auf der Zugfahrt aber traf ihn ein durch die Fensterscheibe krachender Stein.
Den Patienten muß die Neuköllner Winterhilfe vorkommen, als wenn es den Weihnachtsmann tatsächlich gibt. Und das erst recht, wenn im Dezember die 1,80 Meter hohen Plastik-Weihnachtsbäume aufgestellt werden, die die Speditionsfirma Schenker noch in ihrem Lager gefunden hat.
Nicht viel besser geht es den Gesunden: Die russische Inflationsrate von fünf Prozent liegt nicht weit von der deutschen entfernt – bezieht sich allerdings nicht auf ein Jahr, sondern eine Woche. Für eine Mark erhält man inzwischen 750 Rubel. Und dem Wettlauf der Preise hinken Einkommen und Renten hinterher: Wie sollen die Alten von 16.000 Rubeln Rente leben, wenn eine Wurst schon 3.000 Rubel kostet?
Und wer nicht hungert, friert: Die meisten Menschen in Puschkin husten und schniefen, weil die Heizungen nicht pünktlich zum 1. September ansprangen. Eine Winterjacke aber kostet 45.000, ein Norweger-Pulli 28.000 und ein Paar Winterstiefel 40.000 Rubel. Weil die vielen Armen aber trotzdem irgend etwas essen müssen, gibt es die städtischen Suppenküchen. Die mit 900 pro Tag ausgegebenen Essen größte „Stalowaja“ erhält der Bezirk Neukölln am Leben. Da die letzten Vorräte aufgebraucht waren, mußte der Konvoi früher starten als ursprünglich geplant. Die jetzige Lieferung muß bis zum nächsten Transport im Februar reichen.
In Gefahr geraten ist die Suppenküche, als sich im Frühjahr der Arbeiter-Samariter-Bund überraschend aus Puschkin zurückzog. Den wahren Grund dafür kennt auch Puschkins Bürgermeister Juri Nikiforow nicht. Neukölln aber läßt seinen russischen Partner nicht sitzen. Deshalb bleibt mit Karin Bieberstein eine Mitarbeiterin des Bezirksamtes für ein halbes Jahr in Puschkin. Allein weil sie fließend Russisch spricht, wird sie an allen Ecken und Enden gebraucht. Ihre erste Aufgabe war, das Entladen der Lastwagen zu beaufsichtigen. Da die hiermit beauftragten Marine-Kadetten nur 4.000 Rubel im Monat, umgerechnet also keine 6 Mark verdienen, kann schon mal der eine oder andere Mehlsack verschwinden.
Ohne persönliche Kontakte kann sich eine echte Städtepartnerschaft nicht entwickeln. Deshalb hat Bezirksbürgermeister Mey zusätzlich zur Hilfe für Suppenküche und Krankenhaus eine Paketaktion ins Rollen gebracht: Im Bezirksamt liegt eine Liste, auf der das Puschkiner Sozialamt 17.000 Bedürftige aufgeführt hat. Wer wie Alfons Hellak aus Spandau helfen will, geht ins Rathaus und bittet zum Beispiel um die Adresse einer alleinstehenden Frau mit vielen Kindern. Nadja Atabekjan ist eine solche. Von 40.000 Rubeln muß sie die achtjährigen Zwillinge Ira und Marina und die fünf Jahre ältere Karina ernähren. Kindergeld? 1.500 Rubel im Monat – ein Kilo Bananen – für alle drei Kinder zusammen. Ihre Nachbarin Maria Fedorowa freut sich mit ihr über die Hilfe aus Deutschland. Dann nimmt sie einen Stift und schreibt ihre Adresse auf: Maria Fedorowa hat auch keinen Mann. Aber zwei Kinder. Peter Pax
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