Schwindelgefühl des Nowhere-Land

„Wie nötig sind Denkmäler?“ – Eine Tagung in Marl diskutiert Ahnenkult, Bildersturm und Historisierung. Die Ausstellung zum Thema wird in den nächsten Wochen in mehreren Städten Nordrhein-Westfalens zu sehen sein  ■ Von Heike Kruschinski

„Jede Gegenwart sucht sich ihre eigene Vergangenheit.“ Und: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“ Zwischen beiden Sätzen – der erste stammt von dem Marburger Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott, der zweite von dem Kölner Soziologen Alphons Silbermann – lag ein anderthalbtägiges Symposion zu der Frage „Wie nötig sind Denkmäler?“. Anlaß war die Eröffnung der Ausstellung „Deutsche Nationaldenkmäler 1790-1990“, die ihm Rahmen einer Veranstaltungsreihe des nordrhein-westfälischen Kultursekretariats Gütersloh durch die Provinz reist. Erste Station ist Marl, eine mittlere Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets. Rund 500 Kilometer von der Hauptstadt und der Diskussion um die Neuwidmung von Schinkels Neuer Wache entfernt, geriet das hochkarätig besetzte Symposion beinahe zur Klausurtagung. Im Ausstellungskeller des Marler Skulpturenmuseums, das eine der bedeutendsten Sammlungen zeitgenössischer Plastik besitzt, werden anhand von Modellen und Fotografien verschiedene Stationen der Nationaldenkmäler nachgezeichnet, die in besonderer Weise das Selbstverständnis der Nation spiegeln.

Für die „Kulturnation“ stehen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Reiterstandbilder des musischen Königs Friedrich II., die Luther-, Goethe- und Schiller-Denkmäler. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 werden sie abgelöst durch Verehrungsmonumente für germanische Heldenfiguren wie Hermann, der Etrusker oder zeitgenössische Politikerpersönlichkeiten wie Bismarck. Nach dem Ersten Weltkrieg findet der Gefallenen-Kult seinen Ausdruck in zahlreichen Totenmalen.

Jede Generation, so Tilmann Buddensieg, Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Bonn, hat dem „Bildersaal der deutschen Geschichte“ ihre Werke hinzugefügt. Erstmals habe es durch die Nationalsozialisten eine „Aussortierung“ von „unpassenden“ Denkmälern gegeben. Ein regelrechter Bildersturm aber setzte nach 1945 ein.

Mit einem Dekret vom 30. Oktober 1947 verfügte der Berliner Magistrat neben der Beseitigung der NS-Monumente auch die Schleifung aller HohenzollernDenkmäler. Man mag diesen „schlimmsten Kahlschlag seit den Glaubenskriegen“ (Buddensieg) beweinen, es ergibt sich in dieser Situation aber auch die Chance zu einer Neurorientierung. In der bewußten Auswahl aus den steinernen und bronzenen Zeugnissen der Vergangenheit läßt sich die Gegenwart, das nationale Bewußtsein als Gedächtnis nun neu definieren.

Auf die Notwendigkeit urbaner Denkzeichen verwies Gert Mattenklott: Im Zeitalter grenzenloser Bewegung im „Schwindelgefühl des globalen Nowhere-Land“ seien sie „Haltegriffe“ und „Ruheplätze“. Gleichwohl warnte Mattenklott bei der Wiederaufstellung und Rekonstruktion von Denkmälern vor einem gedankenlosen Griff in den „Fundus des deutschen National-Theaters“.

Die Bestimmung des Nationalen über den „gemeinsamen Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen“, die vielzitierte Definition des französischen Religionshistorikers Ernest Renan, scheint im demokratischen Pluralismus nachgerade ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Die Hervorhebung einzelner Persönlichkeiten, Tugenden, Ideale, so Mattenklott, läuft dem Primat der Egalisierung zuwider. Daß eine allgemeine Gleichmacherei zwangsläufig zu einer Nivellierung jeglicher Werte führt, zeige die Neuwidmung der Neuen Wache in Berlin.

Die Gestaltungsverfügung von Bundeskanzler Helmut Kohl – die teilweise Rekonstruktion von Tessenows Innenraum und die „aufgeblasene“ Käthe-Kollwitz-Plastik „Mutter mit totem Sohn“ – soll als allgemeingültiges Zeichen der Trauer alle Leidtragenden des Zweiten Weltkrieges einschließen. „Dieses große Experiment“, so Christoph Stölzl, der Leiter des Historischen Museums in Berlin, sei ein Angebot zur Versöhnung.

Trauer als das Allgemeinmenschliche, als der kleinste gemeinsame Nenner jenseits von unangenehmen Fragen: Diese Privatisierung und damit Enthistorisierung kritisierte der Kunstexperte Manfred Schneckenburger. Alphons Silbermann erinnerte in diesem Zusammenhang an die Bedeutung von Denkmälern für nachfolgende Generationen. Eine Erinnerung an den Holocaust würde so nicht wachgehalten, vielmehr versinke sie in der Verallgemeinerung.

Wegen der militaristischen Tradition lehnte die Berliner Publizistin Stefanie Endlich die Neue Wache als Gedenkstätte mit staatstragendem Charakter generell ab. Sie plädierte für eine Wiederherstellung des Zustandes von 1931 als Bau-Denkmal mit einer Begleitausstellung zur Geschichte des Gebäudes. Zudem sprach sie sich gegen zentrale Gedenkstätten überhaupt aus. Statt dessen sollten Mahnmale und Museen an historischen „Tatorten“ eingerichtet beziehungsweise gepflegt werden.

Bei der Neuen Wache geht es indes weniger um die mahnende Erinnerung – das schien in den Gesprächsbeiträgen von Christoph Stölzl durch. Der wiedervereinigte Staat bedarf einer zentralen Gedenkstätte zur Eingliederung in den protokollarischen Ritus der anderen westlichen Nation. In Schinkels meisterhaftem Bau sollen vor allem Kränze niedergelegt werden: im weihevollen Zeremoniell. In der Wahl von Käthe Kollwitz' 1937 entstandener Pietà entdeckte Manfred Schneckenburger die nahtlose Anknüpfung an die Tradition der Totenmale nach dem Ersten Weltkrieg.

Der von den Deutschen evozierte Zweite Weltkrieg, die Massenvernichtungslager, das „Jahr Null“ bleiben so ausgespart. Die Brüche der Gesellschaft werden verdeckt und nicht freigelegt, wie es – laut Schneckenburger – Aufgabe eines Denkmals wäre: Wunden offenhalten. Als eine mögliche Form nannte der Kunstprofessor das Mahnmal gegen Faschismus von Esther und Jochen Gerz in Hamburg-Harburg: Eine zwölf Meter hohe quadratische Säule, in deren schwarzer Bleiummantelung Passanten ihre Unterschrift eingravieren können. Nach und nach wird die beschriebene Stele abgesenkt, bis sie schließlich ganz im Boden verschwindet. Je stärker Erinnerung sich in äußeren Zeichen manifestiert, so Schneckenburger, desto geringer wird das innere, lebendige Gedächtnis einer Gesellschaft. Aber das, so scheint es, ist in der Neuen Wache auch beabsichtigt: die Verarbeitung der Vergangenheit in Bronze und Stein.