: Revolutionäre Gerüchteküche
Klatsch-Politik. Eine Studie von Arlette Farge über Gegen-Öffentlichkeiten des 18. Jahrhunderts ■ Von Rebekka Habermas
Arlette Farge gehört zu jener in der Mehrzahl aus Historikerinnen bestehenden Gruppe, die die Herausforderungen der neueren Geschichtsschreibung, angefangen von der „Nouvelle Histoire“ über die „Anthropological History“ bis zur „Microstoria“, nicht als Angriff auf Clios Heiligtümer mißversteht, sondern als Chance begreift – eine Chance, die Historikerinnen unerschrockener als ihre Kollegen wahrnehmen, da sie nach wie vor weit mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Schon in ihrem 1989 auf deutsch erschienenen Buch „Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts“ wie auch in dem zusammen mit Jacques Revel verfaßten Essay „Logik des Aufruhrs“ macht sie deutlich, daß es ihr nicht um globale Theorieentwürfe geht: weder will sie die Gesetze des Weltlaufs erklären noch der Gegenwart Handlungsanleitungen geben. Statt dessen entwirft sie ein faszinierendes und hoch differenziertes Bild von vergangenem Leben, gibt sie Hinweise darauf, warum historische Prozesse so und nicht anders abliefen, wie Menschen sich und ihre Umwelt zu deuten suchten, wie das Wechselspiel zwischen Herrschaft und Ohnmacht funktionierte und von welcher Beschaffenheit die kleinen Widerstände des Alltags waren. Diese Form der Geschichtsschreibung, die Farge mit der soeben in einer vorzüglichen Übersetzung publizierten Studie „Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert“ fortführt, verzichtet auf eine totalisierende Darstellung, um statt dessen Bruchstücke zu einer Collage zu montieren. Eine Collage, die nicht zu verheimlichen sucht, daß Geschichte ihren Ursprung in der Werkstatt der Historikerin hat.
Im Zentrum von „Lauffeuer in Paris“ stehen die gleichen Protagonisten wie in ihren vorhergehenden Studien: das Pariser Volk des 18. Jahrhunderts und der König. Und wieder geht es um die Erkundung der Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertanen; darüber hinaus jedoch versucht Farge den Formen der politischen Äußerungen des peuple im Paris des 18. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen. Sie stellt – nachdem die Öffentlichkeiten der mehr oder minder gelehrten Bürger und Bürgerinnen hinlänglich erforscht worden sind – damit die Frage nach der Denk- und Redefähigkeit des gemeinen Mannes im vorrevolutionären Frankreich.
Das 18. Jahrhundert selbst fand unterschiedliche und nicht selten widersprüchliche Antworten auf diese Frage. Verfügte der peuple über keinen institutionalisierten Ort der Willensbildung und leugnete die Monarchie die Existenz einer volkstümlichen öffentlichen Meinung, so scheuten auch die Chronisten – jene Zeitzeugen, denen Historiker bis heute am meisten Glauben schenken – weder Mühe noch Tinte, um das Volk von jedem Verdacht der Rede- und Denkfähigkeit im politischen Raum freizusprechen. In ihren Augen war das Volk ein zu Exzessen der Freude oder des Zornes neigender Haufen, eine amorphe und nur instinktiv reagierende Masse, bar jedes Funkens von Verstand. Und doch: Die bloße Präsenz staatlicher Verfolgungsorgane, das Heer von Spitzeln, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Meinung des Volkes genauer zu untersuchen, straft Chronisten des 18. Jahrhunderts wie Historiker dieses Jahrhunderts Lügen. Will man diesen Agenten des Königs Glauben schenken, so läßt sich gar eine wachsende Halsstarrigkeit beobachten, mit der einzelne Marktfrauen und Handwerksburschen auf ihrer Meinung bestehen.
Wirklich überzeugt von der volkstümlichen Fähigkeit zur politischen Willensbildung ist freilich nur Nouvelles ecclésiastiques, die Untergrundzeitung der Jansenisten. Die Jansenisten, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch die Bulle „Unigenitus“, Verfolgungen ausgesetzt waren, appellierten überdies unverhohlen an die öffentliche Meinung. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß Laien in der Lage sind, gegenüber religiösen Fragen Stellung zu beziehen. Und ist erst einmal religiöse Reflexion legitim, so steht auch einer politischen Meinungsbildung nichts mehr im Wege.
Deutet Farge im ersten Kapitel schon die langsame Herausbildung einer öffentlichen Meinung in den unteren Schichten der Hauptstadt an, so zeigt das zweite Kapitel, welche Formen und Motive dieser Diskurs annahm. Im Mittelpunkt des Geredes der Straße standen die alten Sorgen – die Angst vor Blutregen, Ungeheuern, Teufeln und Alchimie –, die alltäglichen Unsicherheiten der Subsistenz und der König. Die polizeilichen Verfolgungen machen deutlich, daß alle drei Formen der Meinungsäußerung als höchst bedrohlich wahrgenommen wurden: Teufels- und Hexenglaube, Schatzsucherei und alchimistische Versuche wurden genauso hart geahndet wie die Proteste, die anläßlich von Brotpreiserhöhungen mehr oder minder lautstark artikuliert wurden, oder wie das Lachen über die königlichen Affairen. Und bedrohlich war dieses Gerede in der Tat, denn es zeigte, daß die Leute das Recht, ohne Vormund zu wissen und zu urteilen, immer selbstbewußter in Anspruch nahmen. Gefährlich war es auch aufgrund seiner janusköpfigen Gestalt; kaum hatte das eine Gerücht die Runde gemacht, widersprach ein zweites, welches wiederum von einem dritten zurechtgerückt wurde. Schließlich wurden gar die Helfer der Spitzel angewiesen, vor dem Abnehmen von heimlich plakatierten Schmähschriften diese zu verdecken, damit sie nicht vom Bazillus des Aufruhrs angesteckt würden.
Die – so zumindest sah es der Polizeiapparat – bedrohlichste Form des Geredes war die über den König; ihr suchte man mit allen Mitteln der Spitzelkunst zu begegnen. Die obsessiven Bemühungen im Kampf gegen die Majestätsbeleidigung gingen so weit, daß eine Frau, die sich eines Attentats auf den König bezichtigt hatte, das sich schließlich als reines Phantasieprodukt entpuppt hatte und dementsprechend als „Selbstanzeige wegen eingebildeter Verbrechen“ qualifiziert worden war, die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis verbrachte. Letzlich konnten – wie Farge im dritten Kapitel verdeutlicht – diese staatlichen Verfolgungen den Drang der Straße nach Informationen nicht unterdrücken. Mehr noch, die lange Reihe der im Archiv der Bastille erhaltenen Beleidigungsklagen belegt, daß das Volk im Laufe des 18. Jahrhunderts ein zusehends distanziertes Verhältnis zum König entwickelte: Wurde zu Beginn des Jahrhunderts der Anspruch des seine Untertanen liebenden Königs auf Gegenliebe noch weitgehend erwidert, so war spätestens mit dem mißglückten Attentat auf seine Majestät 1757 einer weniger versöhnlichen Phantasie Tür und Tor geöffnet. Nachdem die Verletzbarkeit des königlichen Körpers einmal erwiesen war, nahmen die Schmähungen gegen Ludwig XV. kein Ende mehr. Rousseau konnte 1762 seinen „Emile“ veröffentlichen, die Straße gab sich einer wahren Orgie von Mordphantasien hin und den Possen über Madame Pompadour war kein Einhalt mehr zu gebieten.
Obschon Farge darauf insistiert, daß nicht von einer gradlinigen, geschweige denn zielgerichteten Herausbildung einer Meinung der Straße gesprochen werden kann – und obwohl ihre zuweilen verwirrende, fast geschwätzige Erzähltechnik das ihre dazu tut, diesen Eindruck zu verwischen –, zeigt sich, daß der peuple am Ende des Jahrhunderts selbstbewußter seine Meinung äußert. Er meint gar das Recht auf freie Rede für sich reklamieren zu können, mit seinen Äußerungen Gewißheiten zu erschüttern und Situationen auf den Kopf zu stellen.
Wie sachkundig und differenziert Farge auch das Stimmengewirr der Gassen, Märkte und Schenken im Paris des 18. Jahrhunderts entwirrt und ungeachtet der Tatsache, daß sie neue Fragen mit ungewöhnlichen Methoden auf kunstvolle Art und Weise angeht, ihre starke Orientierung am Modell bürgerlicher Öffentlichkeit scheint ihr den Blick dafür zu verstellen, daß auch im 16. und 17. Jahrhundert – etwa während der Reformationstumulte oder im karnevalesken Treiben – Gewißheiten erschüttert und das Recht auf Wissen eingefordert wurden. Hätte sie die politische Willensbildung auf der vorrevolutionären Straße etwas stärker im Lichte dieser Traditionen betrachtet, hätte ihr Bild gewiß deutlichere Konturen angenommen.
Arlette Farge: „Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert“. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, Klett-Cotta Verlag, 336 Seiten, geb.,48 DM
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