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Leipzig entkommen

Renitenz und Sprachkritik. Zornige Blicke zurück – Kurt Drawerts Zeitmitschriften  ■ Von Peter Walther

„Der Osten ist ein vollkommen kaputtes Gebiet voller Menschen mit ruinierten oder halbruinierten Lebensläufen, und denen, die es dahin haben kommen lassen, geht es weithin wieder unverdient gut.“ Bitter sind die Wahrheiten von Kurt Drawert, vorgestellt in einem schmalen Band, der neben einem Prosatext vor allem Aufsätze und Kritiken („Zeitmitschriften“) sowie einige Gedichte des diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträgers enthält.

„Haus ohne Menschen. Ein Zustand“ heißt der preisgekrönte Text, der den Band einleitet. Darin beschreibt Drawert die Stadt Leipzig, in der er bis vor kurzem lebte, als einen „Verlorenheitsort“, einen „Fäulnisraum“, voll von „Substanzdreck, Landesdreck, Staatsdreck, Erinnerungsdreck“, eine Halbmillionenstadt, die man „ohne Sedativum oder zumindest ohne Alkohol oder Kettenrauchen oder Verzweiflungsvögeln“ nicht übersteht: „Diese Stadt ist in einem solchen Zustand von Fäulnis, daß sich ganze Parfümeriekonzerne daran zu Tode arbeiten werden, Neutralisierungsgerüche (...) zu produzieren.“ Überall sinkt Staub nieder, der durch die „nach innen voranfaulenden Fenster“ dringt und sich als klebrige Substanz, als „Schmutzsubstanz“ auf die Oberflächen der Dinge setzt. Doch Leipzig steht nur als Teil fürs Ganze: „Es sind alles Entsorgungsprobleme, der Osten ist ein einziges überdimensionales Entsorgungsproblem.“

„Übertreibungskunst“ hat man diese Art zu schreiben bei einem Wahlverwandten Drawerts, bei Thomas Bernhard, genannt. Doch mit Übertreibung ist nicht die radikale Sicht auf die Dinge gemeint, sondern die leitmotivische Technik im Text, das Einander-Vorantreiben von Motiven hin zu einem Ende, das bei Drawert zumeist dem Untergang oder der Verweigerung und dem Eingeständnis gleichkommt, das Problem zwar beschreiben, aber nicht lösen zu können oder zu wollen.

Zweifellos birgt die Radikalität dieser Sicht, die sich auch in den Essays und Kritiken des Autors findet, mehr Wahrheit in sich als jede um Ausgewogenheit bemühte Darstellung der Zeitläufte. Erklären läßt sich schließlich alles; bisweilen jedoch sagt der beredsame Anlauf dazu schon mehr über die verborgenen Absichten des Redners aus als der Inhalt selbst. So richtet sich Drawerts Mißtrauen in fast allen Aufsätzen, die in dem Band versammelt sind, gegen den Gebrauch der herrschenden Sprache. Sich ihrer zu bedienen, und sei es in Opposition zu ihr, wäre ja schon Eingeständnis und verlängerte ihr Leben. In der herrschenden Sprache kann, meint Drawert, allenfalls politische, nicht aber literarische Dissidenz ausgedrückt werden.

Gibt es eine Sprache jenseits der Macht?

So wiegt der Verrat des Schriftstellerkollegen Schedlinski, der die theoretischen Ansichten seines Freundes Drawert nur theoretisch teilte, praktisch aber dem staatlichen Sicherheitsdienst zuarbeitete, besonders schwer. Nicht nur das persönliche Verhältnis zum ehemaligen Freund sei grundlegend zerstört, schreibt Drawert in einem „offenen Brief“, sondern auch das Vertrauen in eine Dichtung, die sich dazu bekannte, jenseits der Machtspiele zu agieren. Man kann es wohl als Betriebsblindheit verstehen, daß sich des Autors Mißtrauen zwar gegen die verlogene Eloquenz der Macht, nicht jedoch gegen die wortreich wiederholte Beteuerung Schedlinskis gerichtet hat, durch die Distanz sprachkritischer Analyse sich der schnöden Parteinahme am „Machtdiskurs“ entzogen zu haben. Drawerts Kommentar im nachhinein: „Wo moralische Kriterien aus den ästhetischen Diskursen zu verschwinden beginnen, gilt es, sie zu behaupten. Andernfalls verlieren die Produkte, und die literarischen zumal, ihre Spur an Sinn, lösen sich in wohlgefällige Spielerei auf und fügen sich ein ins Ensemble der Entbehrlichkeiten.“

Bei Drawert ist der ästhetische Grundimpuls nicht angelernt, sondern als Teil der eigenen Biographie aus dem Erlebnis gewachsen, durch Sprache beherrschbar zu sein. Schon früh hat das Kind darauf mit Sprachverweigerung reagiert, und „wollte die Welt des Sprechens, die es zu betreten hatte, wieder verlassen. Es spürte, vielleicht gerade rechtzeitig noch, wie es über die Worte dem Einfluß des Vaters ausgeliefert war und seinen noch wachsenden Körper an dessen Befugnisse verlor“. Zur Strafe wurde der kindliche Sprachkritiker vom Vater in den dunklen Keller gesperrt – eine Geschichte mit biographischem Hintergrund, die Drawert schon in seinem 1992 erschienenen essayistischen Roman „Spiegelland. Ein deutscher Monolog“ erzählt hat.

Zu einem anderen Aspekt der Beziehung von Macht und Sprache, dem Verhältnis der Intellektuellen zum DDR-Staat und zu dessen Spitzelapparat, findet der Autor deutliche Worte: „Sie stellen Forderungskataloge auf und verfassen Klagebriefe, wo sie sich einmal ernsthaft Fragen zu stellen und mit sich selber zu beschäftigen hätten. Mehr noch streiten sie darum, in die Annalen der Opposition zu gelangen, und rechnen ihre seichten Disziplinverstöße im Parteiverband oder ihre Druckablehnungen vor. Auf dem Hintergrund zahlloser Existenzen, denen das Rückgrat gebrochen ist, heben sie den eigenen verstauchten kleinen Finger als Beweis dafür, auch widersprochen zu haben.“

Bei aller Schärfe der Argumentation gelingt es Drawert in seinen Essays und Kritiken durch wohldosierte Anwendung bitterer Ironie, sich nicht an seinem Gegenstand zu verbeißen. Köstlich zu lesen ist seine Analyse des „Mythos DDR“: „In einem Fernsehbericht über die Stadtplanung Berlins jammerte eine Frau darüber, daß der Palast der Republik, der ihr plötzlich ein identifikatorisches Symbol geworden war, abgerissen werden soll. Er hätte, sagte sie, doch viel mit ihrem Leben zu tun. Auf den Einwand, daß er asbestverseucht und praktisch nicht länger zu benutzen sei, antwortete sie: ,Aber man konnte doch einmal so gut in ihm essen.‘“ Hier, kommentiert Drawert, „stürzt, was sinnvolles kommunikatives Handeln ist, vollkommen zusammen. Die Bemerkung, die diese Frau macht und mit der sie radikal die Gesprächsbeziehung aufkündigt, ist eher schon dem stummen, physischen Reflex jenseits des Sprechens zuzurechnen als dem Mythos. (...) Ja, wir sind im Irrsinn, wo er verspricht, klinisch zu werden.“

Bleibt die Frage, wie man im „Fäulnisraum“ überhaupt noch leben kann. Wirklich nur mit Beruhigungsmitteln, Kettenrauchen, Alkohol? Drawert hat für sich eine andere, jedoch gleichermaßen private Lösung gefunden: er ist Anfang des Jahres von Leipzig in die Nähe von Bremen umgezogen.

Kurt Drawert: „Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften“. Edition Suhrkamp Leipzig, 125 Seiten, 14,80 DM

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