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Die ihren Namen vergessen

■ Hamburg: Neue Wege in der Betreuung verwirrter Alter hier bitte das Foto mit der alten Frau

„Nur wer stört, erhält Zuwendung“F.: V.Mette

Warum soll der Bewohner eines Altenpflegeheims morgens überhaupt aufstehen? Was zwingt ihn dazu? Was erwartet ihn? Nichts. So beschrieb am Dienstag Hans-Hermann Gerdes vom Rauhen Haus Hamburg die Situation in deutschen Altenpflegeheimen. Das Diakonische Werk Bremen hatte ihn in die Pflegeeinrichtung Friedehorst in Lesum eingeladen, um sich über das Thema „Wohnen und Leben verwirrter alter Menschen in stationären Einrichtungen“ auszutauschen.

Die bisherige Praxis der Altenpflege wirke sich, so Gerdes, geradezu fatal auf die noch verbliebenen Fähigkeiten der BewohnerInnen aus: „Mit der Aufnahme ins Altenheim werden wegen des rationalisierten Betriebes alle Beteiligungsmöglichkeiten der Bewohner zunichte gemacht.“ Auiffälliges Verhalten entstehe oft erst durch diesen Zwang zur Untätigkeit.

Der Personenkreis der verwirrten alten Menschen nimmt heute ständig zu, Fachleuten zufolge können zur Zeit schon 60 Prozent der BewohnerInnen von Altenpflegeheimen als „demens“, also als verwirrt, bezeichnet werden.

In Hamburg startet dieses Jahr ein Modellversuch zur „Individualisierung in der Altenhilfe“. Dort soll zuerst ein „Beratungsladen im Stadtteil“ etabliert werden, wo die Pflege für den Einzelnen in einem regionalen Netzwerk der verschiedenen Betreuungseinrichtungen koordiniert wird. „Heute geschieht das oft nach dem Prinzip Zufall, und gerade verwirrte Alte sitzen da zwischen allen Stühlen“. Dann werden Wohngruppen mit 7-13 Plätzen geschaffen, in denen sich die alten Menschen einmieten. „Kompetenzorientiert“ sollen die noch vorhandenen Fähigkeiten gefördert werden. Spezialstationen für verwirrte Alte soll es nicht geben, weil die weder für BewohnerInnen noch PflegerInnen zumutbar seien.

Das Zauberwort in diesem Pflegebereich sind „tagesstrukturierende Maßnahmen“. Acht dieser Maßnahmen gibt es in Bremen „heimübergreifend“. Doch Hans Heinrich Schmidt von der Sozialbehörde mußte sich angesichts von 5.000 Altenheimplätzen in Bremen sagen lassen, dies sei ja wohl nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“.

Vor allem benötigen die Heime für die Pflege verwirrter alter Menschen mehr Personal, war man sich einig. Denn bei dem jetzigen Streß, so zitierte Gerdes eine Pflegerin, sehe es oft so aus: „Wer am meisten stört, erhält die meiste Zuwendung. Die Stillen indessen laufen die Flure auf und ab und vergessen langsam aber sicher ihren Namen.“

JaS

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