Verwirrung statt Verständnis

■ Studenten der TU Harburg boykottierten Vorlesung / Professoren beleidigt

Im Studiengang Elektrotechnik an der TU Harburg waren im vergangenen Sommersemester zwei Vorlesungen gut besucht. Rund 80 Studenten lauschten gebannt den Ausführungen des 22jährigen Tobias Kleyer zu den „Grundlagen der Elektrotechnik A“. Doch den dritten Termin konnten Dozent und Zuhörer nicht mehr wahrnehmen. Der Hörsaal war dicht.

Direktor Hauke Trinks hatte von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht und die Türen abgeschlossen. Aus und vorbei für die praxisorientierte Stoffvermittlung. Nach Meinung der Professorenschaft geschah dies zu Recht. Denn bei den fachlichen Ausführungen von Kleyer handelte es sich nicht um das reguläre Angebot der Uni, sondern um die Boykottveranstaltung von rund 70 Prozent der Studenten gegen die Vorlesung des Professors Reinhard Ulrich. Der Fachschaftsrat hatte zum Protest gerufen, nachdem das Prüfungsergebnis des vorherigen Semesters bekannt geworden war: Über 90 Prozent der Studenten waren bei Ulrich durchgefallen.

Ist der zu hohe Anspruch der Dozenten verantwortlich für diese hohe Quote oder fehlt es den Studenten an Fähigkeiten? Für Professor Ulrich ist das keine Frage: „Es sind ja immer wieder die Wiederholer, die diese Ergebnisse verursachen. Da fehlt offensichtlich die Begabung. Das Problem ist nicht bei den Lehrenden zu suchen.“ Die übrigen Profs gaben erstmal Rückendeckung und stellten sich hinter Ulrich. Die Boykottvorlesung sei „nicht nur ungesetzlich, sondern zutiefst beleidigend, unsinnig und schädlich“, hieß es in einem Dekanatsprotokoll. Die Studenten hätten doch das Gespräch mit den Verantwortlichen suchen können.

Doch der Fachschaftrat hält an der Kritik fest, daß Ulrich zu hohe Anforderungen an die Erst- und Zweitsemestler stellt: „Der redet total über unsere Köpfe hinweg“, sagt Tobias Kleyer, der zu den ganz wenigen gehört, die die Klausur in „ET A“ auf Anhieb bestanden. „Am Anfang hatte ich noch gehofft, daß die Vorträge irgendwie erhellend für mich sein würden“, sagt Olaf Behrend, der sich schon im ersten Semester frustriert aus dem Vorlesungssaal zurückgezogen hatte. Danach habe er nur noch zu hause für die Klausur gelernt.

So ein „Ausleseprozeß“ kann nicht Sinn einer Vorlesung sein, denkt sich die Fachschaft der E-Techniker. „Statt zum Verständnis des Stoffes beizutragen, verwirrte die Vorlesung total“, sagt Fachschaftsratmitglied Mario Stoltz. Kein Wunder, denn der Stoff sei für Fortgeschrittene, meint Jörg Seekamp mittlerweile. Der jetzige Sechst-Semestler bekam die Übungen des ersten Semesters im fünften noch einmal vorgesetzt.

Die Folgen dieser permanenten Überforderungen sind an der TU Harburg allseits bekannt. Während der Prüfungszeit leiden die Elektrotechnik-Studenten unter schlimmstem Psycho-Streß. Gefördert wird die Angst durch abfällige Äußerungen des Professors. Seekamp: „Der Kommentar für diejenigen, die bei Ulrich nicht bestehen, lautet: Nicht jeder hat eben das Elektrotechniker-Bite.“

Mit angeknackstem Selbstbewußtsein gehen die Studenten eher zum Arzt statt zur Klausur. In der Regel fehlen pro Klausur bis zu 70 Prozent. Das Sekretariat hat schon die weiße Flagge gehißt. Weil dort niemand mehr weiß, wohin mit all den gelben Zetteln, ist eine ärztliche Bescheinigung bei versäumten Klausuren nicht mehr erforderlich.

Die Kleinrevolte der Elektrotechniker hatte zumindest einen Erfolg: die Übungen im Saal, erst vor einem Jahr eingeführt, wurden wieder abgeschafft. Nun können die Jungtechniker wieder in Kleingruppen üben, eine kleine Erleichterung, „wenn schon die Vorlesung eher kryptisch ist“, so Jörg Seekamp. Die im September beschlossene neue Prüfungsordnung geht in die selbe Richtung: weniger Vorlesungen, mehr Übungen.

Auch Professor Ulrich formuliert vorsichtig inhaltliche Pläne: „Man arbeitet ja immer an dem Stoff für eine Vorlesung. Ich tue es auch“.

„Unser Boykott hat Signalwirkung gehabt“, sagt Olaf Behrend. „Wir müssen den Professoren etwas Zeit lassen, die müssen ja schließlich ihr Gesicht wahren“. Der Student ist sicher, daß die Angst der Professoren vor rufschädigender Wirkung der Aktion unbegründet ist: „Von einer liberalen, didaktisch guten Uni werden Studenten doch viel mehr angezogen“. Und Werbung hätte die TU bitter nötig. In Harburg sind die Studentenzahlen wie an allen technischen Hochschulen rückläufig. Seit einem Jahr bekommt das Hätschelkind der Hamburger Wissenschaftspolitik seine Studienplätze nicht mehr voll. Katrin Wienefeld