Ausverkauf in Waltersdorf

■ In dem Dorf nahe Schönefeld lockt ein Einkaufspark der Superlative Kunden aus Berlin und den neuen Bundesländern / Ein Möbelhändler bekam Bauland im Tausch gegen Feuerwehrwagen und die Baugenehmigung in ...

Von Nils Klawitter

Im Südosten Berlins, an der A 113 nach Dresden, ist das von den LPGs versauerte Brachland bebaut worden: Sieben große Klötze bilden den „Einkaufspark“ Waltersdorf. Schon kurz hinter Schönefeld stört der größte Klotz den freien Blick nach Süden – „Höffner“ ist auf ihm kilometerweit zu lesen.

Bis 1989 war Höffner eine Berliner Möbelfirma unter vielen. Doch deren Inhaber Kurt Krieger wollte mehr. Sofort nach dem Fall der Mauer klapperte er die Vororte Berlins ab – Krieger war auf der Suche nach einem Standort für das größte „Höffner“-Möbelgeschäft in Deutschland. Eines Tages im Herbst 1989 fährt er bei Grünau von der Autobahn und hält in dem ersten Dorf hinter der Ausfahrt. Er spricht einige Waltersdorfer an und fragt bescheiden, ob sie sich ein Einkaufszentrum in ihrer Nachbarschaft vorstellen könnten. Die Waltersdorfer sind sprachlos. Im Herbst 1989 können sie sich gar nichts so richtig vorstellen. Die 820 Bewohner des Dorfes sind gerade aus der Gefangenschaft entlassen. Sie wohnten in der Sicherheitszone hinter der Grenze, den sie nur mit Passierschein verlassen durften, nachts überhaupt nicht. Und jetzt sollen sie ein Zentrum des Kapitalismus werden?

Während die Waltersdorfer sich noch verdutzt die Augen reiben, haben die Gemeinderäte Kurt Krieger verstanden: In Windeseile erstellen sie einen Flächennutzungsplan. Sie machen das zum ersten Mal. Danach kommen die Bebauungspläne. Für alle Vorhaben reicht der Atem der überforderten Räte nicht: Mitarbeiter von Teppich Kibek malen sich ihren Bebauungsplan selbst. Die Waltersdorfer sind kapitalismusbetäubt, ohne Besinnung. Bei der Bürgerbefragung äußert kein einziger der Bewohner irgendwelche Einwände gegen den Bau.

Bürgermeisterin Renate Pillat, nach der Wende als SED-Mitglied in die Wüste geschickt und heute als Parteilose wieder beliebt, erklärt das Waltersdorfer Wunder: „Waltersdorf hat mit Herrn Krieger einen Vertrag gemacht. Er bekommt Gemeindeland – dafür haben wir von ihm zum Beispiel einen neuen Feuerwehrwagen bekommen.“

Waltersdorf bekam mehr: 15.000 Autos rollen täglich an der Gemeinde vorbei auf das 350.000 Quadratmeter große Areal. An Spitzentagen staut sich der Verkehr bis auf die Autobahn zurück. Um den Parkplatz des Einkaufszentrums zu verlassen, brauchen die Besucher dann 40 Minuten. Busse fahren abends nur im Stundentakt.

Die Baugenehmigungen für den Konsumkoloß waren in drei Monaten erteilt. „Der Bauherr hat sich um alles gekümmert“, näselt der erkältete Beamte im zuständigen Bauamt Königs Wusterhausen. Auch dem Umwelt- und Naturschutzamt sei nichts Monierenswertes aufgefallen, „außer daß vielleicht ein Vogel gegen die Baugerüste fliegen könnte“.

Erwin Lütke aus Waltersdorf wartet immer noch auf seine Baugenehmigung. Der KFZ-Meister wollte seine Werkstatt erweitern und eine 8 mal 12 Meter kleine Reparaturhalle bauen. „Das wird auf'm Landratsamt in Königs Wusterhausen immer hin- und hergeschoben“, sagt er und winkt ab. Auf die Genehmigung für die Vergrößerung seiner Einfahrt hat er ein halbes Jahr gewartet. Hätte er ohne Genehmigung gebaut und Strafe gezahlt, wäre er billiger davongekommen.

Die Hauptstraße des Dorfes vor seiner Werkstatt wurde zweimal aufgerissen und betoniert. „Hier muß ja erst mal 'ne vernünftige Infrastruktur geschaffen werden“, sagt Renate Pillat, und lehnt sich in das schwarze Knautschleder ihres Bürgermeistersessels zurück. Um die Infrastruktur für die 3.200 Parkplätze des Einkaufsparks zu optimieren, hat Krieger einige Bewohner des Dorfes umgesiedelt. Die zwölf betroffenen Familien wußten nicht, wie ihnen geschah: Auf der einen Seite von Waltersdorf walzte die Planierraupe den Schutt ihrer Häuser platt, und auf der anderen Seite wurden die letzten Sträucher im Vorgarten ihrer neuen Wohnungen gepflanzt. Den Familien hat Krieger eine Trauer- Ablöse gezahlt: Er hat ihnen die Wohnungen geschenkt. „Die haben einmal im Leben richtig Glück gehabt“, sagt Renate Pillat, „da lief einigen im Dorf die Galle über.“ Die Bügermeisterin hat sich für die Familien gefreut. Krieger hat schließlich auch an sie gedacht: Ihr Bürgermeisterbüro wurde renoviert, sie bekam neue Möbel, einen Computer mit Drucker und ein Faxgerät. Ein Dorf, das jedes Jahr mehrere Millionen Mark an Grund- und Gewerbesteuer einnehmen wird, muß auch repräsentieren können, dachte der Unternehmer. Wofür das Geld ausgegeben werden muß, hat er der Gemeinde ins Notizbuch geschrieben: feste Straßen, Telefonanschluß, Anbindung an Erdgas- und Wasserversorgung.

Um die Ecke vom Gemeindeamt wohnt Heinz Markwitz. Eigentlich ist er Frührentner, aber diesen Donnerstag hilft er mal wieder im Kälberstall der Waltersdorfer Landschafts- und Agrargenossenschaft, Nachfolgerin der ehemaligen LPG. Mit seiner Frau und drei Töchtern wohnt er in einem Haus der Gemeinde. „Nach der Wende wurde mal ein bißchen renoviert, aber so schlecht, daß meine Kinder beim Spielen auf einmal die Steckdosen in der Hand hatten“, erzählt er. Durch das Dach regnet es in das Kinderzimmer der Töchter. Es wird nicht richtig warm, und die Bettdecken sind klamm. Auf eine Renovierung muß Familie Markwitz so lange warten, bis die Infrastruktur stimmt. Zwischen dem Markwitzschen Haus und dem Gemeindeamt steht das Wahrzeichen des Ortes: die Waltersdorfer Kirche. Der romanische Backsteinbau wurde um 1200 als Wehrkirche gegen die Slawen errichtet. Bis heute ist sie nicht gefallen, aber ihr Dorf hat sich verkauft.

Ein paar hundert Meter weiter, auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums, der so groß ist wie 60 Fußballfelder, rangelt ein Oranienburger Opel-Fahrer mit einem Rudolstädter Wartburg-Fahrer um den letzten der 3.200 Parkplätze.

Eine ältere Frau irrt über das Gelände. Sie sucht ihren Mann und sein Auto. Sie kommt aus Spengenberg, hat bei „Höffner“ einen Kaffee getrunken und wollte „nur mal schauen“. Nun hat sie sich verlaufen und friert. Der Wind hat ihre schüttere Dauerwelle zerzaust. Sie braucht zwanzig Minuten, um ihren Mann und das Auto zu finden.

Der Spielzeugsupermarkt „Toys 'R‘ us“ lockt mit 18.000 verschiedenen Artikeln auf einer Verkaufsfläche von 2.000 Quadratmetern. Motto des amerikanischen Spielzeug-Multis: „We have it.“ Innen knetet der lange Sven, 11, mit unbeteiligtem Gesicht blitzschnell die roten und grünen Tasten der 16-Bit-Konsole. Wo denn die „Winspectors“ seien, will ein kleiner Junge von einer Verkäuferin wissen. „Bei der Action in Gang fünf D“, kommt es nach einer Weile monoton. Die Winspectors hängen im überfüllten Regal zwischen Crash Dummies und Transformern. Es sind handgroße Multi- Kämpfer ohne Gesicht. Ihre Hände sind Waffen, ihre Finger Läufe. Die Kinder von Waltersdorf kennen die Winspectors. Doch 30 Mark haben ihre Eltern nicht dafür übrig. „Mein Vater fährt den ganzen Tag Steine aus, und meine Mutter arbeitet im Gericht“, erzählt Thomas, acht Jahre alt. Sein Freund Mark wünscht sich schon lange ein BMX-Fahrrad, doch darauf muß er noch warten. Mark hat sich geholfen und sein klappriges Gefährt aus dem Fahrradkombinat „getunet“: Statt einer Konsole aus Stahl klebt zwischen den Griffen seines Fahrrades ein Stück Holz. „Sieht irgendwie nach BMX aus“, lacht er. Bei „Toys 'R‘ us“ waren Mark und Thomas nur einmal, zur Eröffnung. Damals gab es etwas umsonst – Luftballons.

Siehe „Stadtmitte“ Seite 28