Der unzweckmäßige Herr K.

Der ehemalige Arbeitsamtsdirektor von Plauen im Vogtland war in den Siebzigern IM „Böhm“, wurde in den Achtzigern als „Abonnent“ bespitzelt und im Sommer 1993 gefeuert  ■ Von Detlef Krell

„Waldfrieden“ heißt die Siedlung. Das klingt verdächtig. Nach Rasenmäher und Gartenzwerg. Gemütlichkeit am Goldfischteich. Und was einem sonst noch dabei schwant. Nein, so ist es nicht. Wenn ein Ausläufer der Provinzgroßstadt Plauen einen dermaßen idyllischen Namen trägt, ist anderes zu befürchten. Von sieben Hügeln umgeben liegt Plauen im Vogtland. Einen quält sich die Straßenbahn hinauf nach „Waldfrieden“. Der sieht aus wie befürchtet. Hundert Schritte links, hundert Schritte rechts, zwölf Etagen hoch, und das Ganze noch mal und noch mal. Wer vornan wohnt, hat eine schöne Sicht auf die Berge.

Herr Kaden beschrieb den Weg am Telefon. Auf den ersten Block geradezu, am zweiten vorbei und um den nächsten zur Hälfte herum, schon ist der richtige Eingang erreicht. Kinder spielen Fußball auf der Straße, und an den Fenstern passen die Alten auf, wohin der Ball fliegt. Es ist Samstag und Mittagsschlafzeit.

Was in Kadens Wohnung zuerst auffällt, sind Bücher. Regale voll im winzigen Korridor, Bücher in der Wohnstube; Schrankwand, die obligatorische Sitzecke. Jürgen Kaden bietet Platz an, legt einen Stoß Hefter und Zeitungsausschnitte auf den Tisch, obenauf ein Mitgliedsbuch der Christlich-Demokratischen Union. Der Mann ist nervös.

Jürgen Kaden, 50 Jahre alt, war bis 1. Juni Direktor des Plauener Arbeitsamtes. Als er an jenem Tag zum Präsidenten des sächsischen Landesarbeitsamtes nach Chemnitz bestellt wurde, brach für Kaden „eine Welt zusammen“. Die Stadt hatte ihren Skandal. Kaden bei der Stasi! Ist seine Frau nicht CDU-Abgeordnete und ausgerechnet noch Vorsitzende des Ausschusses „Amtsmißbrauch und Korruption“?

21 Jahre zuvor, am 27. Juli 1972, hatte der „Reisekader“ des VEB Carl Zeiss Jena seine Bereitschaftserklärung für informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit unterschrieben. „Wir wissen“, hatte ihm der Kombinats-Tschekist damals gedroht, „daß Sie Dubček-Anhänger sind!“ Carl Zeiss, das privilegierte Musterkombinat unter der Führung des ZK-Mitgliedes Wolfgang Biermann, hatte einen eigenen Außenhandelsbetrieb. IMS „Böhm“ sollte bei seiner Arbeit in Lateinamerika, wie es damals hieß, „den Außenhandel absichern“, das heißt für die Spionageabwehr des MfS tätig werden.

Kaden arbeitete in Chile, erlebte den faschistischen Putsch, dann in Kolumbien. In Brasilien gab es einen „Vorfall“: Kaden schwänzte die allabendlich-kollektiven „Maßnahmen“ der DDR- Botschaft, begab sich auf das „heiße Pflaster“ von São Paulo und wehrte sich gegen eine „neue Regelung“, wonach er seine kärglichen, selbstverdienten Devisen auf ein DDR-Konto überweisen sollte. Damit hatte er sich für die vorzeitige Rückreise qualifiziert. 1978 lernte er Angelika kennen, seine jetzige Frau.

Frau Kaden nimmt den biographischen Faden auf und erzählt, daß sie sich „nie politisch engagiert hatte“. Mit ihrem damaligen Ehemann wollte sie „aus wirtschaftlichen Gründen“ in den Westen gehen. Der Ausreiseantrag des Ehepaares schmorte jedoch schon einige Jahre bei den Behörden und schien nicht eben viel Aussicht auf Erfolg zu haben. Als ihr Partner dann auf eigene Faust, bei Nacht und Nebel, „Republikflucht“ an der tschechoslowakisch-österreichischen Grenze versuchte, erhielt die Frau Gelegenheit, leibhaftige Mitarbeiter der Staatssicherheit vom Angesicht her kennenzulernen. Bald war die Frau „psychisch am Boden“. Ihre Vorgesetzten wurden auch zunehmend deutlicher: Sie solle sich scheiden lassen. Die Behörden ließen sie wissen, daß sie einen neuen Ausreiseantrag gar nicht erst zu stellen bräuchte, „der würde gleich im Papierkorb landen“.

Daß sie sich mit ihrer neuen Liebe einen Informellen Mitarbeiter der Stasi an die Seite heiratete, wußte Angelika Kaden nicht: „Warum hätte er mir das erzählen sollen? Er war ja zu denen längst auf Distanz gegangen.“ Am 2. April 1980 verfaßte Kadens Führungsoffizier einen „Abschlußbericht zum IMS Böhm“ und kam zu dem zwar nicht ganz logischen, aber gutgemeinten Fazit: „Im Zeitraum von 1972 bis 1979 fanden 2 Treff's, bedingt durch das Fernstudium, Auslandseinsatz und seinen labilen Gesundheitszustand, statt.“ (Orthographie, Grammatik original MfS) Kadens „persönliches Auftreten“ lasse den Schluß zu, „daß er keine parteiliche Haltung mehr einnimmt. Hiervon zeugt u.a. sein Bestreben aus der SED auszutreten um Mitglied der CDU zu werden.“ Als Ursache des Übels galt der „enge persönliche Kontakt zu einer Frau“, die Kaden heiraten wolle.

Abschließend stellt der Führungsoffizier fest: „Eine weitere op. Nutzung erscheint aus den dargelegten Gründen unzweckmäßig. Deshalb wird vorgeschlagen, die Akten ... zur Ablage zu bringen.“ Die Akte „Böhm“ wurde geschlossen, die Akte „Abonnent“ eröffnet. Aber davon wird Kaden erst erfahren, als er seinen Termin bei der Gauck-Behörde erhält.

„In Plauen schlossen wir uns der evangelisch-methodistischen Kirchgemeinde an“, führt er die Geschichte weiter. Dem Genossen wurde die Abweichung zu Gott nicht etwa nachgesehen, doch den neuen Job als Absatzmitarbeiter beim VEB Plauener Spitze hat es ihn nicht gekostet. Die Frau war Mitglied der CDU und arbeitete als Preisinspektorin im Rat der Stadt.

So bestand die sogenannte „Nationale Front“ bis in Kadens Wohnzimmer. „Das hat uns geschützt“, meint Angelika Kaden heute, mit der Blockpartei-Quotenfrau sei die Staatsgewalt moderat umgegangen. Schließlich hatte die CDU schon damals ihre Not, die Planstellen zu besetzen.

Ihr Pastor gab den guten Rat: „Bleiben Sie im Land, es kommt bald anders.“ Als es „anders kam“, holte Jürgen Kaden den Wechsel zur CDU nach, und Angelika Kaden engagierte sich in der bürgerbewegten „Gruppe der 20“ für die „Wende“. Zu den Wahlen trat sie erfolgreich für die CDU an, und er folgte dem Vorschlag des Oberbürgermeisters, das sozialistische „Amt für Arbeit und Löhne“ in ein Arbeitsamt umzubauen. Ein begehrter Posten, wie sich später herausstellte; jedenfalls saßen zum Zeitpunkt von Kadens Abberufung an den Spitzen der ostdeutschen Arbeitsämter fast nur noch Westbeamte.

Wäre es nach der Bundesanstalt für Arbeit gegangen, hätten die Plauener Zeitungen die Suspendierung des Arbeitsamtdirektors mit einer Kurzmeldung abgehandelt, ohne Angabe von Gründen. Doch der Betroffene ging selbst an die Öffentlichkeit. „Die Presse hakt doch sowieso nach“, ahnte er; und die angedrohte Kündigung wollte er so schon gar nicht hinnehmen.

„Ich weiß, daß ich Fehler gemacht habe, aber ich meine auch, daß man das Leben eines Menschen differenziert werten muß.“ Er habe in den beiden Gesprächen mit der Stasi mündlich Auskunft über dienstliche Fragen seiner Reisen gegeben, außer den obligatorischen Reiseberichten für seinen Chef keinen Bericht geschrieben. Darüber liegen 16 Aktenseiten vor. Er habe niemanden bespitzelt.

Nach dieser Enthüllung wehte durchs Vogtland ein kleiner Sturm. Jürgen Kaden spielt die Kassette seines Anrufbeantworters vor: Da wünschen Freunde und Unbekannte, er möge durchhalten und sich nicht einschüchtern lassen, da schimpfen ihn anonyme Anrufer als „Stasischwein“. Eine mehlige Männerstimme richtet „liebe Grüße an Angelika, von Werner“ aus. Frau Kaden: „Ich kenne keinen Werner.“ Ihr Pastor hielt zu ihnen, zeigte sich „zutiefst empört“ über die Entscheidung der Bundesanstalt. Ein SPD-Abgeordneter ließ über die Presse wissen, daß er „Sippenhaft“ zwar ablehne, sich aber doch frage, „welche Rolle spielt Frau Kaden bei der ganzen Geschichte?“ Beide Kadens traten aus der CDU aus, „weil wir in dieser Partei vergeblich das C suchen“.

Zu dieser Zeit hatten sie ihre eigenen Akten noch nicht einmal zu sehen bekommen. Der Hauptpersonalrat der Bundesanstalt für Arbeit ließ den Präsidenten mit Schreiben vom 21. Juli wissen, daß er der beabsichtigten Kündigung nicht zustimme. Er begründete das mit einer „differenzierten Betrachtung“ von Kadens IM-Zeit.

Jeder „Reisekader“ der DDR habe für seine Arbeitsstelle Reiseberichte anfertigen müssen, über „besondere Vorkommnisse, persönliche Beobachtungen und Einschätzungen der ausländischen Konkurrenz“. Nach Aktenlage seien „keine anderweitigen Aktivitäten oder gar Bespitzelungen“ bekannt.

Am 17. August durften Kadens bei der Gauck-Behörde in Chemnitz endlich ihre Akten einsehen. Auf mehr als 200 Seiten fanden sie „einen Familienkrimi wieder“: ein Brief an einen tschechischen Freund, 1968 mit der Bitte nach verbotener Literatur abgesendet, IM-Berichte über Kadens Lebenswandel, über seine Vorliebe, nachts klassische Musik zu hören, über seine intimen Beziehungen ... So erfuhr Kaden nicht nur, wie er damals bespitzelt wurde. Er mußte sich an den „beklemmenden“ Gedanken gewöhnen, daß der Arbeitgeber in Nürnberg ohne sein Wissen alles das zu lesen bekommen hatte. „Intimste Details“ seien in der Akte zusammengetragen worden. Die 16 während seiner IM- Zeit angefertigten Aktenseiten bekam er nicht zu sehen; nur den Abschlußbericht und die daraufhin eröffnete Akte „Abonnent“. Benannt war sie nach Kadens Vorliebe für Gedrucktes: Für monatlich 70 Mark soll er Zeitungen bezogen haben. Das schien offenbar sehr verdächtig. Mehrere IM waren auf die Kadens angesetzt. Sie versahen ihren Dienst gründlich, gaben hier und da einen Schuß Erlogenes in die Suppe und sorgten dafür, daß ihr „Abonnent“ ein für allemal „für Auslandsreisen gesperrt“ blieb.

Einige haben inzwischen das Gespräch mit ihm gesucht, erzählt Jürgen Kaden. „Doch diejenigen, die das meiste niedergeschrieben hatten, meldeten sich nicht.“ Kadens werden sie zur Rede stellen. Verzeihen wollen sie, aber nicht vergessen. An Wiedereinstellung durch die Bundesanstalt für Arbeit glaubt der einstige Direktor indes nicht. Dennoch will er seinen Fall nicht zu den Akten legen. Es könnte ja sein, hofft er, daß es für die „differenzierte Wertung von Lebensläufen in der DDR“ noch nicht zu spät ist. Beim Arbeitsgericht führt er Klage gegen die Kündigung, bei verschiedenen Firmen hat er sich um Arbeit beworben. Vergebens. „Beim Vorstellungsgespräch reden wir eine Dreiviertelstunde über das Thema, man drückt mir sein Mitgefühl aus, und dann heißt es: Sie werden verstehen, ich kann Sie nicht einstellen, Sie sind zu bekannt.“

Die Firmen fürchten eine öffentliche Meinung, die es nach Kadens Erfahrungen so gar nicht gibt. Die Aufregung nach der von ihm selbst vorgenommenen IM-Enttarnung habe sich gelegt; und nachdem er seine Stasi-Akte in der örtlichen Presse offenlegen konnte, gibt es viel Rückhalt. Auch Angelika Kaden, jetzt fraktionslos im Stadtparlament, fand schlimmste Befürchtungen nicht bestätigt: „Die gehen im Rathaus alle fair mit mir um.“ Nicht einmal in der Nachbarschaft habe es Anfeindungen gegeben. Wehmütig erinnern sich beide an die Aufbruchzeit im Herbst 1989. „Damals haben wir gesagt: Jetzt möchten wir noch mal so alt sein wie unsere Kinder.“ Heute resümiert Jürgen Kaden: „Es war für die Katz.“ Am Ende geht er wieder zu seinem früheren Arbeitsplatz, nun als Bittsteller. „Ich dachte als Direktor immer, daß ich mich gut in die Situation der Arbeitslosen hineindenken kann. Als ich jetzt das erste Mal mit den anderen auf dem Gang stand, wurde mir klar: Ich hatte sie doch nicht verstanden.“