: Befreiung zur Solidarität
Helmut Gollwitzer 1908 – 1993. Ein Nachruf ■ Von Dietrich Braun
„Befreiung zur Solidarität“ – unter diesem für ihn charakteristischen Titel hat Helmut Gollwitzer 1978 seine Berliner Abschiedsvorlesung in Buchform veröffentlicht. Wenn er von Solidarität sprach, so meinte er immer eine dreifache: die unbegreifliche, nie aufhörende Solidarität Gottes mit dem Menschen, die aus Dankbarkeit hierfür entspringende Solidarität des Menschen mit diesem menschenfreundlichen Gott und eben um seinetwillen auch die Solidarität mit der unter den Folgen ihrer Gottesfeindschaft leidenden Welt: „,Gott ist gnädig‘ heißt: Gott ist mit uns solidarisch. Und glauben heißt: solidarisch werden mit denen, mit denen Gott solidarisch ist, ein Bote der Solidarität Gottes zu den anderen hin, weil er mit uns nicht solidarisch ist, ohne mit dem neben uns solidarisch zu sein. Solidarität heißt Freiheit für den anderen, wie Gott frei ist für uns.“
Es gibt in der Tat kein anderes Wort, das für Helmut Gollwitzer bezeichnender wäre als dieses: In tiefer Solidarität lebte er mit seinen Mitgefangenen in Rußland in den Jahren 1945 bis 1949; früher als die meisten anderen erklärte er seine Solidarität mit den Juden, dem Judentum und dem Staat Israel; es war diese Haltung, die ihn Partei ergreifen ließ für die leidende Bevölkerung in Vietnam, der es aber auch zu verdanken ist, daß die aufbegehrenden Studenten 1968 auf ihn hörten, so daß die Unruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke keine blutigen Zwischenfälle nach sich zogen. Aus Solidarität als „Freiheit für den anderen“ hat Gollwitzer denn auch eine sozialistische Gesellschaftsordnung befürwortet und das solidarische Miteinanderleben von Menschen eher für geeignet gehalten, zu einem Gleichnis des Zusammenlebens im kommenden Reiche Gottes zu werden, als eine auf privatem Gewinnstreben beruhende kapitalistische Ordnung.
Unvergeßlich bleiben in diesem Zusammenhang aber auch die großen öffentlichen Stellungnahmen des Empfängers der Buber-Rosenzweig- und der Carl-von-Ossietzky-Medaille für die Menschenrechte und gegen das Wettrüsten und seine erklärte Solidarität mit allen, die sich auf der Höhe des kalten Krieges mit ihm im Kampf gegen den tödlichen Wahnsinn engagierten.
Keine Frage: Wie umstritten auch immer, Helmut Gollwitzer war „einer der vielseitigsten und fruchtbarsten evangelischen Theologen in Deutschland seit der Zeit des Dritten Reiches“. Sein literarisches Werk umfaßt umfangreiche theologische und philosophische Monographien, Auslegungen biblischer Bücher und Predigtbände, zeitgeschichtliche Werke, politische und kirchenpolitische Schriften. Schon früh geriet der streitbare Theologe in Konflikt mit der Obrigkeit. Während der Nazizeit schloß er sich der Bekennenden Kirche an und übernahm 1938 als Nachfolger Martin Niemöllers nach dessen Verhaftung die Dahlemer evangelische Gemeinde.
Zwei Jahre später wurde er mit Redeverbot belegt, seines Amtes enthoben, aus Berlin ausgewiesen und wenig später zur Wehrmacht eingezogen. Nach den Jahren der Gefangenschaft in Rußland wirkte er zunächst auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie in Bonn und folgte 1957 einem Ruf an die Freie Universität Berlin. Als theologischer Lehrer, als Prediger an der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem und nicht zuletzt als Seelsorger in den bewegten Jahren vor und nach 1968 verehrt und angegriffen, ist er aus der Geschichte von Theologie, Kirche und Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte nicht wegzudenken.
Wenn er für viele das Image eines politisierenden Theologen besaß, so übersahen sowohl rechte Kritiker wie linke Anhänger oft, daß sich Helmut Gollwitzer theologisch eher als einen mehr konservativen, an den zentralen Gehalten der biblischen Botschaft sich orientierenden Ausleger und Prediger und als einen um den Menschen bemühten Seelsorger verstand. Gerade deshalb fragte er unerbittlich nach den Konsequenzen der christlichen Verkündigung für Politik und Gesellschaft. Schüler Martin Luthers ebenso wie des Basler Theologen Karl Barth, hat ihn der zwischen beiden theologischen Schulen ausgetragene Grundlagenstreit in der Ethik besonders beschäftigt. Angesichts des komplementären Gefüges von lutherischer Zwei-Reiche-Lehre, deren Vertreter bemüht sind, geistliches und weltliches Handeln in einer spannungsvollen Unterscheidung zu halten, und der Lehre Barths von der Königsherrschaft Christi, in der es darum geht, keine vom Evangelium unerreichten Eigengesetzlichkeiten entstehen zu lassen, lag für ihn der Akzent zweifellos auf der letzteren. Konkret ging es hierbei um die Lehren aus dem Kirchenkampf während des Dritten Reiches für die deutsche Politik und um die Erkenntnis des politischen Auftrags der christlichen Gemeinde.
Vor diesem Hintergrund sind die beiden Hauptanliegen des theologischen Wirkens Gollwitzers in der Nachkriegszeit zu verstehen: die Förderung des christlich-jüdischen Dialogs und seine Bemühung um das Verhältnis von Christentum und Sozialismus. Leidenschaftlich ist der Theologe seit dem Jahr der Reichspogromnacht für eine grundlegende Revision des traditionell verfehlten christlich-jüdischen Verhältnisses eingetreten. Seine damals am Bußtag 1938 gehaltene Dahlemer Predigt begann mit den Worten: „Wer kann denn jetzt noch predigen? Sollten wir nicht einfach stille sein und nur noch Gott um Vergebung für uns und unser Volk bitten?“
Als aufmerksamen Beobachter der Situation des Staates Israel bedrückten ihn jahrelang schlimme Befürchtungen einer neuen großen Zerstörung Israels – eine Gefahr, für die er die jüdische Rechte verantwortlich machte. Nun durfte er das beglückende Ereignis der beginnenden Versöhnung Israels und seiner arabischen Nachbarn noch erleben. Obwohl er aus seiner Option für eine sozialistische Gesellschaftsordnung nie ein Geheimnis gemacht hat, war er weit davon entfernt, das diktatorische Gesellschaftssystem des klassischen Marxismus in der ehemaligen Sowjetunion, wie er es in seiner mehrjährigen Kriegsgefangenschaft kennengelernt und mit Funktionären diskutiert hatte, als nachahmenswertes Beispiel zu empfehlen.
Was ihm vor Augen stand, war die relative Utopie einer gerechten und herrschaftsfreien Gesellschaft, eines engagierten Humanismus, einer radikal demokratischen, sozialistischen Reformbewegung, die jedenfalls für ihn der real existierende Sozialismus nicht war und auch nicht sein wollte. In seinen späten Jahren hat sich Helmut Gollwitzer dann immer skeptischer geäußert: Das kapitalistische System zeige eine erstaunliche Überlebens- und Reformationsfähigkeit; eine sozialistische Zukunft sei zwar im Blick auf die heutigen Weltprobleme das Nötigste, werde aber nicht kommen; die Art der Verwirklichung des Sozialismus haben diesen diskreditiert. Viele seien einst Kommunisten geworden, um nicht hoffnungsarme Nihilisten zu werden. Wie aber, wenn dieser Weg nun kein taugliches Mittel mehr ist? Und wie, wenn der Glaube an den Kapitalismus, an den sich das „Prinzip Hoffnung“ statt dessen gehängt hat, ein noch folgenschwererer Irrglaube ist? Kann ein heutiger Mensch etwas anderes als Nihilist sein? Der Theologe Gollwitzer im Rückblick auf sein Leben: „Ich wollte darüber berichten, was nach meiner Erfahrung gegen den Nihilismus gefeit machen kann. Das kann das Evangelium.“
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